Der Todesbote
nach. Und meine Vorstellungen von einem neuen Leben wurden mit der Zeit immer konkreter.«
»Und wie sollte diese Ihre Weltverbesserung aussehen?«, will man von ihm wissen.
»Ich hatte zunächst nur ein Ziel. Ich musste die verschiedensten Länder und ihre Kulturen erst einmal kennen lernen. Nicht nur die Häfen mit ihren Bordellen. Ich musste frei sein. Deshalb trennte ich mich auch von meiner Frau und meinem Kind. Alles andere wissen Sie ja selbst.«
Seit Jahren sitzt Anatolij Onoprienko in seiner kargen Zelle.
Seine Arbeit auf der Maxim Gorkij macht längst ein anderer.
Doch viele der ehemaligen Matrosen, die mit ihm auf diesem Schiff zusammenarbeiteten, verrichten noch ihren Dienst, auch seine ehemaligen Vorgesetzten.
Es ist später Abend, die Dunkelheit ist längst hereingebrochen, als man über die steile Gangway das Schiff im Hamburger Hafen betritt. Von dem Oberdeck aus wenden sich den Besuchern neugierige Blicke über die Reling entgegen.
Gespannt verfolgen sie jeden Schritt der Neuankömmlinge.
Nur der reich dekorierte Erste Offizier des Schiffes betrachtet jeden Besucher, der sein Heiligtum betritt, mit größtem Argwohn. Er mustert die Eindringlinge von oben bis unten, bevor er sie begrüßt.
Zunächst glaubt er, man wolle eine Fernsehdokumentation über dieses Schiff drehen, das als Aushängeschild der Ukraine gilt. Vielleicht fordert er deshalb seine Mannschaft auf, sich diszipliniert zu verhalten. Matrosen, die wohl keinen Hafenfreigang bekamen, gesellen sich freudig und neugierig um das Mikrofon. Sie warten gespannt darauf, was man von ihnen erfahren will. Mit einem gestrengen Blick prüft der Erste Offizier noch einmal seine Uniform.
»Sie wollen sicher über den Stolz der ukrainischen Marine berichten? Ich werde Ihnen zunächst die Daten dieses Schiffes nennen«, sind seine ersten Worte. Sein Redeschwall lässt sich nicht stoppen. Doch wie viel Bruttoregistertonnen das Schiff hat, wann es gebaut wurde und wie viel Seemeilen das Schiff jährlich zurücklegt, interessiert die Besucher nicht.
Etwas verstört unterbricht er seine Rede, als man einen der Matrosen, der gerade ein Fahrrad putzt, fragt: »Sind Sie schon lange auf diesem Schiff?«
Mit einem freundlichen Lächeln antwortet er: »Schon eine Ewigkeit. Wahrscheinlich schon viel zu lange.«
Dabei lachen die Umstehenden laut auf. Der Offizier tritt ein paar Schritte zurück und beobachtet das ganze Geschehen misstrauisch.
Doch bei der nächsten Frage vergeht ihnen und vor allem dem Offizier das Lachen abrupt: »Dann kennen Sie sicher auch noch Ihren früheren Kollegen Anatolij Onoprienko.«
Der Name schlägt ein wie eine Bombe im Kreis der Umstehenden. Der Erste Offizier kann seine plötzliche Nervosität nicht mehr verbergen.
»Nach wem haben Sie gefragt?«, fragt er mit ernster Miene nach.
»Nach Anatolij Onoprienko, dem größten Serienkiller der Ukraine, der auf diesem Schiff gearbeitet hat.«
»Niemand kennt einen solchen Mann mit diesem Namen auf diesem Schiff«, unterbricht er.
Plötzlich haben alle Anwesenden etwas zu tun und verlassen fast fluchtartig die Reling. Zurück bleiben der Offizier und der Matrose, der noch immer demonstrativ gelangweilt an seinem Rad putzt.
Solche Reaktionen erhält man, wenn man heute das Schiff betritt und seine ehemaligen Kollegen nach ihm befragen will.
Man erkennt sofort, dass sie sich nur ungern an den Kollegen Anatolij Onoprienko erinnern wollen.
Als man dem Matrosen noch einmal den Namen Onoprienko nennt, betont er selbstsicher: »Ich sage Ihnen doch, ich kenne solche Leute nicht. Und ich will solche Menschen auch nicht kennen«, und dabei weiß man, dass er über Jahre mit Onoprienko zusammengearbeitet hat.
Auch über seine Exfrau, die noch immer auf dem Schiff arbeitet, will niemand sprechen. Wieder mischt sich der Erste Offizier des Schiffes in dieses Gespräch ein. Die Befragungen gefallen ihm offensichtlich nicht.
Seine Miene wird finster, als er mit strengem Blick fragt:
»Wollen Sie, dass Sie die Polizei hier von Bord holt? Ich kann das sofort organisieren«, droht er, und sein Gesicht verrät, dass er meint, was er sagt.
Enttäuscht verlässt man die Brücke. Zu gerne hätte man Einzelheiten über das Leben des Anatolij Onoprienko während seiner Zeit auf diesem Schiff erfahren. Wie hatte die Besatzung diesen Mann erlebt? Unzählige Stunden hatte man damit verbracht, sich Fragen zusammenzustellen. Zu neugierig war man auf die Aussagen der Besatzung.
Onoprienko
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