Der Todesbote
erzählte so viel über sein Leben auf diesem Schiff. »Es war die Geburtsstätte des Bösen in mir«, verkündete er einmal stolz. »Als ich die endlosen Weltmeere betrachtete, die unbeschreibliche Weite und das Unendliche erkannte, wusste ich, dass ich für das Höhere geboren wurde.
Als ich nachts alleine über Stunden an der Reling stand, war ich mir sicher, dass das unendliche Firmament mit seinen Milliarden von Sternen mir den Weg in meine Zukunft weisen würde. Doch wenn ich mich in mein Bett legte, konnte ich trotz der schweren Arbeit oft nicht einschlafen. Immer wieder sah ich tote Menschen vor mir. Furchtbar zugerichtete Leichen und immer wieder Feuer.«
Gerne hätte man auf diesem Schiff erfahren, ob bereits zu diesem Zeitpunkt Anzeichen in der Persönlichkeit Anatolij Onoprienkos erkennbar waren, die auf etwas Ungewöhnliches hinwiesen. All diese Fragen bleiben unbeantwortet.
Doch solche Niederschläge muss ein Journalist ertragen können. Nicht immer kann man erreichen, was man sich vorgenommen hat und anfangs so leicht erschien. Schon will man die missglückte Nacht verabschieden. Da taucht die geschiedene Frau Onoprienkos plötzlich wieder auf. Noch immer steht sie am Kai unweit der Maxim Gorkij.
Gedankenverloren blickt sie in den Hamburger Himmel.
Sie hält das Bild ihres Sohnes in Händen. Sichtlich erschrocken fährt sie zusammen, als man sie anspricht: »Frau L., wir hätten gerne noch mit Ihnen über Onoprienko gesprochen, über Ihre gemeinsame Zeit mit ihm.«
Und man hat das Gefühl, dass sie gerne an diese Zeit erinnert wird. Onoprienkos geschiedene Frau sieht mit ihren dunklen, langen Haaren für ihr Alter noch immer äußerst attraktiv aus.
Als man sie fragt, ob sie das verstehen könne, was ihr Exmann getan hat und warum er so viele Kinder getötet hat, beginnt sie zu erzählen. Dabei kann sie ihre Tränen kaum unterdrücken.
»Ich kann Anatolij gut verstehen. Er wollte vermeiden, dass die Kinder in ein Waisenhaus kommen, nachdem er die Eltern umgebracht hat. Er wollte nicht, dass sie das erleben müssen, was ihm als Waise widerfahren ist. Ihn hat keiner gebraucht.
Niemand hat sich für ihn interessiert. Er hatte immer Angst vor dem Leben. Er musste ständig hungern. Und davor habe sogar ich Angst.«
Erklärungsversuche einer Frau, die vier Jahre an der Seite eines Serienkillers lebte.
»Es waren die schönsten Jahre meines Lebens mit Tolja (ukrainische Koseform des Vornamens Anatolij). Er war der Mann meiner Träume«, fügt sie hinzu und weint dabei bitterlich.
Drei Monate vor Onoprienkos Verhaftung 1998 verlobte sich die 37-jährige geschiedene Anna Kosak, Mutter zweier Kinder im Alter von sechs und 15 Jahren, mit Anatolij Onoprienko.
Wie sie zueinander fanden?
»Ein Vetter hat uns miteinander bekannt gemacht. Als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich: ›Das ist der Mann für dich‹«, erzählt sie und ihre Augen leuchten.
Dass der Mann ihrer Träume zu diesem Zeitpunkt bereits 17
Menschen getötet hatte, wusste sie nicht.
Die schlanke Frau mit ihren kurzen, blonden Haaren arbeitet bei der Armee als Friseuse. Ihre Wohnung ist gut eingerichtet und penibel sauber und gepflegt. Mit ihren großen blauen Augen und ihren sinnlichen Lippen hätte sie wohl jeden Mann des Ortes bekommen können.
Sie nahm Onoprienko bei sich auf und wurde nicht enttäuscht. Er gab sich als liebender Mann, auch ihren Kindern gegenüber. Beide waren sehr beeindruckt von dem neuen Freund ihrer Mutter. Dem Jungen brachte Onoprienko die Kunst der Selbstverteidigung bei. Das junge, auffallend hübsche Mädchen warnte er vor dem gefährlichen Triebtäter, der sich in diesem Lande herumtreibt.
Als man sie danach fragt, wie ihr der Verlobte ihrer Mutter gefallen hat, gibt sie gerne Auskunft: »Was kann ich sagen. Er war einfach super zu mir und meinem Bruder. Auch zu meiner Mutter war er sehr liebevoll. Völlig anders als die anderen Männer hier im Ort. Man konnte über alles mit ihm reden. Er hatte für alles sehr großes Verständnis, auch wenn wir einmal die Musik zu weit aufdrehten«, erinnert sich das Mädchen.
Ihr jüngerer Bruder, der seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist, erinnert sich an die Zeit mit seinem Stiefvater noch sehr genau. Er grinst über das ganze Gesicht, als er über ihn zu berichten beginnt: »Er war sehr stark. Wie ein richtiger Seemann. Ich durfte sehr oft seine Muskeln anfassen.
Besonders gefallen hat mir, dass er mir so viele Karategriffe beigebracht
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