Der Todesengel von Florenz
trocken. »Das offizielle libro grande für die Steuer, das stets viel weniger Gewinn ausweist, als tatsächlich erzielt worden ist, und das gut versteckte libro segreto für die private Buchhaltung, in dem der wahre Profit vermerkt ist.«
»Wer die Kuh zu oft und zu grob melkt, muss sich nicht wundern, wenn es bald nur noch spärlich tröpfelt.«
»Gut, es spricht also einiges dafür, dass wir es mit jemandem aus dem Kaufmannsstand zu tun haben – oder einem, der bei einem Kaufmann im Kontor arbeitet, etwa als Schreiber«, räumte Tiberio Scalvetti ein. »Aber zwingend ist es nicht. Denn wie ich heute Morgen bereits sagte, kann der Täter sich auch schlicht deshalb für die römischen Ziffern entschieden haben, weil sie einfacher in die Haut der Opfer zu ritzen sind.«
»Dagegen, dass es sich um einen Schreiber handelt, spricht wiederum der Abdruck des Siegel- oder Wappenrings im Wachs an der Tischkante«, wandte Pater Angelico ein.
Tiberio Scalvetti schüttelte den Kopf. »Kaum anzunehmen, dass ein gewöhnlicher fattore über einen derartigen Ring verfügt. Der Lohn eines Kontorangestellten gibt eine solche Anschaffung nicht her, ganz zu schweigen davon, dass ein einfacher Angestellter wohl kaum ein Familienwappen besitzt.«
»Ein Privatsekretär im Palazzo eines reichen Signore, der selbst aus gutem, aber inzwischen verarmtem Haus stammt, könnte einen solchen Ring als Lohn erhalten haben«, spekulierte Pater Angelico.
»Nun ja, es kann sich um ein Erbstück handeln«, gab Scalvetti zu und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ihr seid wirklich nicht nur hartnäckig, sondern wisst auch trefflich Zeichen zu deuten. Einen Mann wie Euch könnte ich in meiner Truppe gebrauchen.«
»Vielleicht werde ich genötigt sein, deswegen bei Euch vorzusprechen, falls mein Prior mich aus dem Kloster jagt. Ich meine, wenn er herauskriegt, dass ich ihn an der Nase herumgeführt habe«, gab der Mönch zurück. »Schon jetzt ist nicht allzu viel brüderliche Liebe zwischen uns verloren.«
Tiberio Scalvetti lachte. »Ach was! Solltet Ihr einmal die Kutte vom Leib ziehen, wird man wird Euch das Atelier einrennen.«
Pater Angelico wusste die Anerkennung, die hier zum Ausdruck kam, zu schätzen. »Jeder hat seine Sendung.«
»Und jede Zeit ihre Wahrheit«, murmelte Tiberio Scalvetti und starrte hinaus in die Nacht. Ein dunkler Schatten schien sich über seine asketischen Züge zu legen, während ihm diese merkwürdigen Worte über die Lippen kamen. Mit einem Mal schien er in Gedanken bei ganz anderen Dingen, die ihn noch weitaus mehr bedrückten als die beiden Morde.
»Und welcher folgt Ihr?«, konnte der Mönch nicht umhin zu fragen.
»Für mich gilt: Ex umbris et imaginibus in veritatem «, antwortete der Commissario. Ein Leben, das aus Schatten und Bildern zur Wahrheit führt.
Der Mönch sah ihn überrascht an. »Das hört sich nach einer ausgesprochen platonischen Weltauffassung an«, sagte er mit fragendem Unterton.
Doch Tiberio Scalvetti sprang nicht darauf an. »Sei’s drum«, murmelte er – schroff beinahe, so als bereue er die beiden letzten Bemerkungen –, griff zum Becher und leerte ihn mit einem Zug.
Pater Angelico war klug genug, nicht nachzuhaken. »Da ist noch etwas, das es zu durchdenken gilt, wenn wir dem Täter auf die Spur kommen wollen«, führte er ihr Gespräch in sichere Gewässer zurück.
»Als da wäre?«
»Das vermutlich Entscheidende, nämlich das › Cui bono?‹, wie Marcus Tullius Cicero zu fragen pflegte«, antwortete der Mönch. »Wem nützt es? Was genau bezweckt der Tarotkartenmörder mit seinen gottlosen Taten? Meiner Kenntnis nach geschehen die wenigsten Verbrechen ohne Anlass und ohne Zweck.«
Der Commissario nickte. »Eine gute Frage«, pflichtete er ihm bei und legte die Stirn in Falten, während er sinnierte. »Wenn wir seine Botschaften beim Wort nehmen, dann müssten Anlass und Zweck religiöser Art sein. Todesstrafe für Menschen, die sich einer der sieben Todsünden schuldig gemacht haben.«
»In dem Fall hätte der Mörder allein hier in Florenz mehr Morde zu begehen, als er selbst bei einem langen Leben bewältigen könnte«, erwiderte Pater Angelico sarkastisch. »Reines, gottgefälliges Leben dürfte in den Mauern unserer Stadt ungefähr so oft zu finden sein wie korrekt geführte Libri Grandi!«
»Ihr sagt es.«
Sie verfielen beide in stummes Grübeln.
Schließlich stutzte Tiberio Scalvetti und sagte: »Nun, einen sehr indirekten Zweck, besser gesagt
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