Der Todeskanal
Brief zu lesen. Er war der jüngste der sechs Männer. Soeben dem College entronnen, hatte er auf die Erde zurückkehren wollen, um zu heiraten. Stuart hatte am Morgen bemerkt, daß der Junge weinte. Sein blasses Gesicht war gerötet und fleckig gewesen, wie das eines Kindes, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Er war sehr hübsch, beinahe wie ein Mädchen. Er hatte große blaue Augen und volle Lippen, und Stuart fragte sich, was das wohl für ein Mädchen war, das diesem Jungen das Jawort gegeben hatte. Er hatte ihr Bild gesehen. Wer auf dem Schiff hatte das nicht? Sie war von jener ausdruckslosen Schönheit, die es so schwierig machte, die Photos von Bräuten voneinander zu unterscheiden. Stuart war jedenfalls der Ansicht, daß er sich einen etwas männlicheren Verlobten ausgesucht hätte, wenn er ein Mädchen wäre.
Blieb nur noch Randolph Mullen übrig. Stuart wußte nicht, was er von ihm halten sollte. Er war der einzige der sechs Männer, der längere Zeit auf den Arkturischen Welten gelebt hatte. Stuart selbst zum Beispiel hatte sich nur kurz dort aufgehalten, gerade lang genug, um ein paar Vorlesungen über Astronautik an einem provinziellen Institut zu halten. Colonel Windham hatte eine gastronomische Reise zu den fernen Sternen gemacht. Porter wollte konzentrierte fremde Gemüsesorten für seine Konservenfabrik auf die Erde holen, und die Brüder Polyorketes hatten sich auf den Arkturischen Planeten als Gemüsegärtner versucht. Nach zwei ertragreichen Ernten hatten sie es aufgegeben, hatten all ihr Gemüse zu Schleuderpreisen auf den Markt geworfen und zur Erde zurückkehren wollen.
Aber Randolph Mullen war siebzehn Jahre lang im Arkturischen System gewesen. Es war seltsam, daß Reisende so schnell übereinander Bescheid wußten. So weit Stuart wußte, hatte der kleine Mann an Bord dieses Schiffes kaum gesprochen. Er war stets höflich, trat immer zur Seite, um die anderen vorbeigehen zu lassen, aber sein gesamtes Vokabular schien aus ›Vielen Dank‹ und ›Entschuldigen Sie, bitte‹ zu bestehen. Und trotzdem ging das Gerücht um, daß er seit sieben Jahren seinen ersten Flug zur Erde hatte unternehmen wollen.
Er war ein kleiner Mann, und er war so pedantisch, daß es einen fast irritierte. Jeden Morgen machte er ordentlich sein Bett, rasierte sich, badete und kleidete sich an. Die Gewohnheit langer Jahre schien sich nicht im mindesten von der Tatsache beeindrucken zu lassen, daß er jetzt ein Gefangener der Kloros war. Er ließ nicht erkennen, daß er die Schlamperei der anderen mißbilligte. Er saß ganz einfach da, in seinen überkonservativen Anzug gepackt, die Hände im Schoß gefaltet, und schien für seine Gegenwart um Entschuldigung zu bitten. Dem dünnen Bart auf seiner Oberlippe gelang es keineswegs, seinem Gesicht etwas mehr Charakter zu verleihen, sondern betonte noch seine Affektiertheit.
Er sah aus wie die Karikatur eines Buchhalters. Und das Merkwürdige war, daß er tatsächlich Buchhalter war. Stuart hatte es in der Passagierliste gelesen – Randolph Fluellen Mullen, Beruf: Buchhalter, beschäftigt bei Prime Paper Box & Co, 27 Tobias Avenue, New Warsaw, Arkturus II.
»Mr. Stuart?«
Stuart blickte auf. Es war Leblanc. Seine Unterlippe zitterte leicht. Stuart versuchte, seinem Gesicht einen milden Ausdruck zu geben.
»Was ist, Leblanc?«
»Wann wird man uns freilassen?«
»Wie soll ich das wissen?«
»Sie haben doch auf einem Kloro-Planeten gelebt, und vorhin sagten Sie, die Kloros seien Gentlemen.«
»Nun ja. Aber auch Gentlemen wollen Kriege gewinnen. Wahrscheinlich wird man uns während des ganzen Krieges gefangenhalten.«
»Aber das kann doch Jahre dauern! Margaret wartet. Sie wird glauben, ich bin tot.«
»Ich nehme an, sie werden uns erlauben, der Erde eine Nachricht zukommen zu lassen, sobald wir auf einem ihrer Planeten gelandet sind.«
Porter mischte sich mit heiserer, aufgeregter Stimme ein.
»Wenn Sie über diese Teufel schon so gut Bescheid wissen, dann sagen Sie uns wenigstens, was Sie mit uns während der Gefangenschaft machen werden? Was werden sie uns zu essen geben? Werden sie uns genug Sauerstoff geben? Sie werden uns töten, sage ich Ihnen.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Auch meine Frau wartet auf mich.«
Stuart hatte Porter vor dem Angriff über seine Frau sprechen hören, und deshalb machte diese letzte Feststellung keinen sonderlichen Eindruck auf ihn. Porters abgebissene Fingernägel krallten sich in Stuarts
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