Der Todeskünstler: Thriller (German Edition)
ihr seinen Hals angeboten, bereit, ihre würgenden Hände zu empfangen.
WWST ?
Der Spruch war ihr irgendwie in den Sinn gekommen. Was würde Sam tun?
Es war ein Mantra, das sie stets dann benutzt hatte, wenn ihre Emotionen und ihre Vernunft im Widerstreit gelegen hatten. Sam war ruhig, Sam war logisch, Sam war so beständig, wie es nur ging. Durchaus imstande zu Zorn, wenn es darauf ankam, doch auch fähig, mit einem Achselzucken über Kleinigkeiten hinwegzusehen.
Wenn jemand ihr auf dem Freeway die Vorfahrt nahm und sie vor Sarah laut zu schimpfen und zu fluchen anfing, hielt sie irgendwann inne und fragte sich: WWST? Was würde Sam tun?
Es funktionierte nicht immer, doch es hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, und es erschien nun, wo sie es am meisten brauchte.
Sam würde die Fakten abwägen. Linda nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen.
Fakt: Wir können nicht entkommen. Er hat uns gefesselt, die Handschellen geben nicht nach. Wir sitzen in der Falle.
Fakt: Er lässt nicht mit sich handeln.
Fakt: Er wird uns töten.
Diese beiden letzten Fakten standen fest. Die ruhige Gelassenheit des Fremden, die fachmännische Art, mit der er alles erledigte, einschließlich dem Verbrennen von Sarahs Hand, ließen nicht den geringsten Zweifel an dem, was er vorhatte. Er würde genau das tun, was er gesagt hatte.
Aber wird er Sarah verschonen, wenn wir tun, was er verlangt?
Fakt: Wir können es nicht mit Sicherheit sagen.
Diese Gedankenkette hatte bewirkt, dass Sam die Augen geschlossen hatte. Dies führt zu jenem, jenes führt zu … und das Ergebnis ist stets das Gleiche.
Fakt: Die Möglichkeit, dass er Sarah verschont, ist alles, was uns geblieben ist. Das Einzige, das wir vielleicht noch kontrollieren können.
Sie öffnete die Augen. Der Fremde beobachtete sie.
»Haben Sie Ihre Entscheidung getroffen?«, fragte er.
Sie blinzelte einmal. Ja. Er entfernte das Klebeband von ihrem Mund.
»Ich tue es«, sagte sie.
Erneut dieses erregte Glitzern in seinen Augen, wie ein Geist, der auftauchte und wieder verschwand.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Ich werde zuerst Sams Hände hinter seinem Rücken fesseln.«
Er tat es in raschen, geübten Bewegungen. Sam hielt die Augen geschlossen und leistete keinen Widerstand.
»Und nun, Linda, werde ich Ihnen die Handschellen abnehmen. Sie könnten auf den Gedanken kommen, erneut auszurasten.« Er schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie es nicht. Es würde zu nichts führen, außer dass ich Sarahs Hand verbrenne, bis sie nicht mehr zu erkennen ist. Verstehen Sie, was ich sage?«
»Ja«, antwortete sie mit hasserfüllter Stimme.
»Gut.«
Er schloss die Handschellen auf. Sie überlegte für eine Sekunde, ob sie ihn angreifen sollte. Sie überlegte, ihn am Halszu packen und zuzudrücken, mit aller Kraft und Angst und ihrem Hass, bis ihm die Augen aus dem Kopf quollen.
Doch das war reine Phantasie, und sie wusste es. Er war ein erfahrenes Raubtier, und er kannte die Tricks seiner Beute.
Ihre Handgelenke pochten. Es war ein dumpfer, tiefer Schmerz. Sie hieß das Gefühl willkommen. Es erinnerte sie an Sarahs Geburt. Ein wundervoller Schmerz, und zugleich beinahe unerträglich.
»Tun Sie es«, befahl der Fremde mit tonloser, gepresster Stimme.
Linda blickte Sam an, der die Augen immer noch geschlossen hatte, ihren wunderbaren Mann, ihren wunderbaren Freund. Er war stark, wo sie schwach war, er war zärtlich, er konnte gefühllos und arrogant sein, er war verantwortlich für ihre längsten Lachanfälle und ihren größten Kummer. Er hatte an ihrer äußerlichen Schönheit vorbeigeschaut auf die hässlicheren Teile, und er hatte sie trotzdem noch geliebt. Er hatte sie niemals im Zorn angerührt. Sie hatten Augenblick voller Liebe und Zärtlichkeit und Sex geteilt, hatten es im Freien in einem Gewitter miteinander getrieben, zitternd, während das kalte Wasser von ihrer nackten Haut abgeperlt war und sie so laut geschrien hatte, dass sie den Wind übertönte.
Linda erkannte, dass sie diese Liste endlos fortsetzen konnte.
Sie streckte die Hände aus. Sie zitterten. Als sie seinen Hals berührten, würgte sie.
Sinnes-Erinnerungen.
Die Berührung löste Zehntausende von Erinnerungen an weitere kostbare Augenblicke aus. Eine Million winziger, rasiermesserscharfer Schnitte auf ihrer Seele, und sie blutete aus allen zugleich.
Er öffnete die Augen, und aus einer Million Schnitten wurde ein einziger furchtbarer, alles verzehrender Schmerz.
Von all seinen
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