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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ihr zu folgen, aber
diesmal war es Abu Dun, der sich durchsetzte. Es war tiefste
Nacht. Nirgendwo war ein Licht oder irgendein anderes
Zeichen menschlichen Lebens zu sehen, und bis die Sonne
aufging, würde noch viel Zeit vergehen. Zeit, in der sie auf der
gepflasterten Straße ungleich schneller vorwärts kommen
würden als im Wald. Sollten sie auf eine Ortschaft stoßen, so
konnten sie die Straße immer noch verlassen und sich wieder in
die Wälder schlagen. Abu Duns Ausführungen waren zu
zwingend, um ihnen widersprechen zu können, und so willigte
Andrej schließlich ein.
Er hätte auch gar nicht die Kraft gehabt, sich auf eine
Auseinandersetzung mit dem Nubier einzulassen. Noch immer
fühlte er sich leer und so erschöpft, als kämen sie aus einer
Schlacht. Er empfand keine wirkliche Trauer über Alessas Tod dazu hatte er sie nicht gut genug gekannt - aber er war auf eine
Weise enttäuscht, die er sich vorher nicht einmal hätte
vorstellen können.
Enttäuscht und beunruhigt. Auch wenn er Abu Duns Worte
einfach weggewischt hatte, so enthielten sie doch ein Furcht
einflößendes Maß an Wahrheit. Wenn es etwas gab, das in der
Lage gewesen war, dieses Mädchen zu töten, dann sollte er dem
auf den Grund gehen.
Sie ritten, bis sich das erste Grau der Dämmerung am
Horizont zeigte, dann zogen sie sich wieder in die Wälder
zurück. Die Sterne waren längst verblasst, als sie endlich aus
den Sätteln stiegen und ihre Pferde festbanden.
»Eigentlich bin ich noch gar nicht müde«, sagte Andrej,
während er seinen Sattel vom Rücken des Pferdes wuchtete und
ein Gähnen unterdrückte. »Wir könnten auch weiterreiten.«
»Das ist keine gute Idee«, erwiderte Abu Dun. »Während der
nächsten Tage sollten wir lieber nur nachts reiten.
Wahrscheinlich ist jetzt schon das ganze Land in Aufruhr und
sucht nach uns.«
»Und du meinst, das tun sie nachts nicht?«
»Ich kenne mich in der Dunkelheit aus«, erwiderte Abu Dun
in einer Schärfe, die keinen Widerspruch zu dulden schien.
»Außerdem wäre es unklug, blind in der Gegend
herumzustolpern. Wir müssen uns orientieren und darüber
nachdenken, wohin wir gehen.«
»Ich weiß, wohin ich gehe«, antwortete Andrej. Er legte
seinen Sattel ins taufeuchte Gras und dachte voller Bedauern an
seinen Mantel zurück, in dem sie Alessa beerdigt hatten.
Abu Dun zog die Augenbrauen zusammen. Die Art, in der
Andrej das Wort ich betont hatte, war ihm nicht entgangen.
»Das habe ich befürchtet«, grollte er.
»Was?«
»Lass mich raten«, sagte Abu Dun scharf, »dein Ziel liegt im
Norden und Westen. Du willst diese Zigeunerin finden.«
»Manchmal bist du mir unheimlich, Pirat«, antwortete Andrej
in nicht ganz so scherzhaftem Ton, wie er eigentlich
beabsichtigt hatte. »Liest du meine Gedanken?«
»Ja«, schnappte Abu Dun. »Vor allem, wenn sie so verrückt
sind wie jetzt!«
Andrej streckte sich im Gras aus und versuchte, seinen
Hinterkopf in eine einigermaßen bequeme Stellung auf dem
Sattel zu legen. Es gelang ihm nicht.
»Ich bin nicht müde«, sagte er. »Und ich hätte eigentlich
erwartet, dass du mich verstehst. Ich muss diese alte Frau
finden.«
»Wozu?« Abu Dun lachte rau. »Glaubst du, du müsstest nur
zu ihr gehen, und sie würde dir …«
»… erklären, was ich bin, ja«, unterbrach ihn Andrej. »Genau
das glaube ich.«
»Du bist verrückt!«
»Ich wäre verrückt, wenn ich es nicht versuchen würde!«,
widersprach Andrej. Er setzte sich auf. »Seit mehr als zehn
Jahren versuche ich herauszufinden, was mit mir geschehen ist,
Abu Dun! Was ich bin, und warum sich das Schicksal diesen
bösen Scherz mit mir erlaubt hat! Niemand weiß etwas! Die
wenigen anderen Menschen, auf die ich gestoßen bin, und die
so waren wie ich, sind entweder verschwunden oder haben
versucht mich umzubringen! Diese alte Frau ist vielleicht die
Einzige, die mir meine Fragen beantworten kann!
»Wahrscheinlich wird sie nur irgendein abergläubisches
Gewäsch von sich geben, wie alle anderen«, sagte Abu Dun.
»Alessa hätte sie die Wahrheit gesagt.«
»Alessa«, antwortete Abu Dun, »hat möglicherweise gelogen,
weil sie Angst vor uns hatte. Oder sie hat im Fieber gesprochen.
Oder diese alte Zigeunerin hat sie auf später vertröstet, weil sie
ihre Fragen auch nicht hätte beantworten können - hast du
darüber schon einmal nachgedacht?«
»Ja«, sagte Andrej, »das habe ich. Es gibt sicher noch tausend
andere Gründe, nicht zu gehen. Du hast Recht, Abu Dun,
tausendmal Recht.

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