Der Todesstoss
Felsboden mit einem klirrenden, nachhallenden
Laut, und ein Zucken durchlief den Werwolf. Der Zorn in
seinen Augen war nun endgültig erloschen. Andrej sah nur noch
Angst und vollkommene Hoffnungslosigkeit.
Da fasste er einen Entschluss. Sehr viel vorsichtiger als beim
ersten Mal richtete er sich auf, schob das Schwert in den Gürtel
und streckte dem Werwolf die nackte Hand entgegen. Abu Dun
sog entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Wir sind nicht deine Feinde«, sagte Andrej, langsam, laut
und übermäßig betont, damit das Geschöpf seine Absicht
verstand, wenn schon nicht die Worte.
Der Werwolf winselte. In einer verkrümmten Haltung, zu der
er weniger durch die niedrige Höhlendecke als vielmehr durch
seinen missgestalteten Körper gezwungen wurde, stand er da.
»Bei Allah!«, keuchte Abu Dun. »Was tust du?«
»Nicht!«, sagte Andrej erschrocken. »Bitte, Abu Dun,
schweig!« Ich hoffe, ich weiß, was ich tue.
Der Werwolf blickte Abu Dun und ihn abwechselnd und mit
flackerndem Blick an. Seine schrecklichen Klauen öffneten und
schlossen sich ununterbrochen, aber trotz der dolchlangen
mörderischen Krallen hatte diese Geste nichts Bedrohliches
mehr.
Andrej konnte nicht sagen, wie viel Abu Dun sah, aber was er
erblickte, zog sein Herz zu einem harten Stein zusammen.
Das Geschöpf sah entsetzlich aus. Andrej fragte sich, ob es
der Werwolf war, der Abu Dun und ihn attackiert hatte, aber er
bezweifelte es. Das Wesen sah nicht so aus, als sei es in der
Lage, sich schnell zu bewegen. Seine Beine waren ungleich
lang, und das linke Knie war so unförmig angeschwollen, dass
es fast unmöglich schien, dass das Wesen mehr als einen oder
zwei Schritte tun konnte, ohne zu stürzen. Dasselbe galt für die
Arme: Wo Ellbogen-, Schulter- und Hand-gelenke sein sollten,
waren grässlich angeschwollene, nässende Geschwüre und
verhärtete Knorpel. Der Körper des bemitleidenswerten
Geschöpfes war mit zahllosen eiternden Geschwüren und
Wunden übersät, und auch das Blut, das über seine Lippen
quoll, schien nicht allein aus seiner zerbissenen Zunge zu
stammen.
»Bei Allah«, murmelte Abu Dun. Seine Stimme bebte. »Was
… was ist das?«
Statt zu antworten, trat Andrej mit ausgestreckter Hand einen
halben Schritt weiter auf die Kreatur zu. Der Werwolf
schnappte nach ihm. Seine Zähne schlugen mit einem
alarmierenden Laut zehn Zentimeter vor Andrejs Fingern
zusammen, aber selbst diese Bewegung war lediglich ein
weiterer Ausdruck seiner Furcht.
»Verstehst du mich?«, fragte Andrej. Gott im Himmel, wenn
es dich gibt, dann mach, dass es mich versteht! Lass es nicht so
enden!
Das Geschöpf verstand ihn.
Es konnte nicht antworten. Wenn es jemals menschliche
Stimmbänder gehabt hatte, dann waren sie längst nicht mehr in
der Lage, verständliche Laute oder gar Worte zu bilden.
Dennoch verstand Andrej es, vielleicht, weil etwas in ihm schon
zum Teil der Welt dieses entsetzlichen Geschöpfes geworden
war.
»Ich gehe jetzt weiter«, sagte Andrej betont. »Ich will dir
nichts tun. Und ich glaube, du willst mir auch nichts tun - habe
ich Recht?«
»Du bist völlig wahnsinnig«, murmelte Abu Dun. »Es wird
dich zerreißen, sobald du ihm auch nur eine Sekunde lang den
Rücken zudrehst.«
Noch vor wenigen Augenblicken hätte Andrej diese
Einschätzung geteilt.
Aber seit er die grenzenlose Verzweiflung in den Augen des
Geschöpfes erblickt hatte, war sein Misstrauen verschwunden.
Er machte erneut eine besänftigende Geste in Abu Duns
Richtung, dann nahm er die Hand vom Schwertgriff und schob
sich langsam, mit angehaltenem Atem und ohne die Kreatur
auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen, an
dem Werwolf vorbei. Der Gang war so schmal, dass sie sich
fast berührten, obwohl Andrej sich mit dem Rücken an der
Wand entlang schob. Er konnte den sauren Schweiß des
Ungeheuers riechen, seine Krankheit, und die rasende Furcht,
die in ihm wühlte.
Endlich hatte er das Ende des niedrigen Stollens erreicht. Vor
ihm weitete sich der Fels zu einer gut zehn Meter hohen und
mindestens fünfmal so langen steinernen Kathedrale, die von
zwei fast erloschenen Feuern in düsteres, blutfarbenes Licht
getaucht wurde, das so schwach war, dass selbst er Mühe hatte,
mehr als Schatten zu erkennen.
Andrej richtete sich auf und trat zwei Schritte in die Höhle
hinein.
Es waren fünf, und Andrej wagte nicht zu sagen, wie viele
von ihnen noch am Leben waren, oder wie lange sie es noch
sein würden.
Die
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