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Der Todesstoss

Der Todesstoss

Titel: Der Todesstoss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Andrejs
Richtung aus; eine Geste unendlicher Hilflosigkeit und so
flehend, dass Andrej mehrmals schlucken musste, um den
bitteren Kloß loszuwerden, der sich plötzlich in seiner Kehle
gebildet hatte.
»Bruder«, krächzte Birger. »Du bist … wie wir. Aber du lebst.
Du kennst das Geheimnis.«
Bruder… Andrej spürte, wie ihm ein eisiger Schauer über den
Rücken lief. »Ich kann das nicht«, antwortete er leise. »Ich weiß
nicht, was mit euch geschehen ist.
Und ich weiß auch nicht, wie ich euch helfen könnte.«
»Du hasst mich«, krächzte Birger. Er sprach langsam,
mühevoll, mit großen Pausen und einer Stimme, die immer
schwächer wurde, weil ihm das Sprechen so große Anstrengung
abverlangte. Er brauchte Minuten, um wenige Sätze
hervorzubringen, aber Andrej zwang sich, ihm ruhig zuzuhören.
»Du … hasst mich. Ich kann das … verstehen. Ich habe
versucht, dich umzubringen, und … und deshalb kannst du mir
… nicht helfen. Ich … ich wusste nicht, wer … wer du bist.«
»Das hätte damit nichts zu tun«, widersprach Andrej, aber
Birger schien seine Worte gar nicht gehört zu haben.
»Ich bitte … nicht für … mich«, fuhr er stockend fort. »Töte
mich, wenn es deinen Rachedurst … befriedigt. Töte mich oder
… oder sieh zu, wie … wie ich sterbe. Aber rette die anderen.
Rette … rette meine Tochter.«
Andrej starrte entsetzt auf das zitternde, kaum noch lebendig
zu nennende Fellbündel, vor dem er kniete. »Das ist Imret?«,
keuchte er.
»Sie … sie ist unschuldig«, fuhr Birger fort. »Ich habe den
Tod … verdient, aber sie hat… dir nichts getan. Rette sie. Sie …
sie ist von deinem Blut.«
»Was sagst du da?« murmelte Abu Dun.
»Wir alle sind von … von deinem Blut«, stammelte Birger.
»Du bist wie wir.
Aber du … du wirst leben. Du weißt, wie … wie man den
zweiten Tod …
überwindet. Rette meine Tochter, ich flehe dich an!«
Der Kloß in seinem Hals war wieder da, härter und bitterer als
zuvor. Plötzlich fiel es auch’ Andrej schwer, zu sprechen.
»Es tut mir Leid«, flüsterte er. »Aber ich kann das nicht. Ich
würde es tun, wenn ich es könnte, aber ich weiß nicht, was ich
tun kann.«
Birger wimmerte. Andrej konnte sehen, wie auch noch das
letzte bisschen Kraft aus seinem Körper wich und er ein zweites
Mal und endgültig in sich zusammensackte.
»Dann erweise uns eine letzte Gnade und töte uns, Bruder«,
krächzte er. »Lass uns … lass uns nicht qualvoll sterben.«
Andrej schloss die Augen, nickte und legte die Hand auf den
Schwertgriff, aber die Waffe schien plötzlich in ihrer ledernen
Umhüllung festgewachsen zu sein. Es gelang ihm nicht, sie zu
ziehen.
»Ich kann es nicht«, sagte er. »Bitte verzeih mir, Birger. Aber
ich kann nicht.«
Er atmete tief und hörbar ein und aus. »Aber ich werde bei
euch bleiben, bis es vorbei ist.«
Es wurde Morgen, bevor Andrej so weit war, sein
Versprechen zur Gänze einzulösen. Birger war nach einer
Stunde gestorben, und fast zur gleichen Zeit auch die anderen,
aber der Todeskampf des bemitleidenswerten Geschöpfes, das
noch vor wenigen Tagen seine zwölfjährige Tochter gewesen
war, dauerte fast bis zum Sonnenaufgang. Vielleicht war es
Zufall, vermutlich aber die Grausamkeit des Schicksals, das ihr
nicht nur dieses unsagbare Leid angetan hatte, sondern ihr auch
die Kraft und Zähigkeit der Jugend gab, mit der sie bis zum
allerletzten Moment gegen das Unausweichliche kämpfte.
Die Feuer waren längst heruntergebrannt und erloschen, aber
von irgendwoher kam Licht, ein flackernder grauer Schein, der
alle Farben auslöschte und fast noch unheimlicher war als das
rote Blutlicht der Feuer. Draußen musste bereits wieder heller
Tag geworden sein, als sich Imret ein letztes Mal aufbäumte
und einen gellenden Schrei ausstieß, um dann endgültig zu
erschlaffen.
Andrej atmete hörbar auf, als der Kopf des Mädchens zum
letzten Mal in seinen Schoß sank. Neben ihm regte sich auch
Abu Dun; zum ersten Mal seit Stunden, wie es ihm vorkam.
»Es ist vorbei.«
»Allah sei Dank!«, sagte Abu Dun grimmig. »Ich wusste
nicht, dass du so grausam sein kannst.«
»Grausam?«
»Ich hätte es nicht mehr lange mit angesehen«, antwortete
Abu Dun. »Warum hast du den Wunsch ihres Vaters nicht
erfüllt und ihre Leiden beendet?«
Andrej kannte die Antwort auf diese Frage. Tatsächlich war
seine Hand im Laufe der Nacht mehr als einmal wie von einem
eigenen Willen beseelt zum Gürtel gekrochen und hatte sich um
den

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