Der Todesstoss
…
… ängstlich.
Andrej war fassungslos. Das Geschöpf wirkte so abstoßend
wie nichts anderes, das Andrej je zu Gesicht bekommen hatte -
aber es hatte Angst.
Und es war krank.
Andrej konnte es riechen; einen sachten, aber wahrnehmbaren
Geruch nach Krankheit und Tod, der sich unter den
Raubtiergestank des Werwolfes gemischt hatte und ihn an das
Fieber und die Schmerzen erinnerte, die er selbst für endlose
Tage kennen gelernt hatte.
Er wiederholte seine mahnende Geste in Abu Duns Richtung,
raffte all seinen Mut zusammen und trat der Bestie einen Schritt
entgegen. Das Schwert hatte er gesenkt, hielt es aber immer
noch zur Verteidigung bereit in der rechten Hand.
»Hör mir zu«, sagte er, langsam und fast übermäßig betont,
damit die Kreatur ihn verstand. »Du kannst mich verstehen,
habe ich Recht?«
Der Werwolf fauchte; ein Laut, der katzenhaft klang. Sein
schreckliches Gebiss schnappte in Andrejs Richtung, aber auch
diesmal wirkte die Bewegung eher Mitleid erregend. Andrej
senkte das Schwert weiter.
»Wir wollen dich nicht töten«, fuhr er fort. »Es ist nicht
notwendig, dass wir gegeneinander kämpfen. Hast du das
verstanden?«
Das Ungeheuer starrte ihn noch einen Moment lang aus
brennenden Augen an - und fuhr mit einer rasend schnellen
Bewegung herum, um in der Dunkelheit zu verschwinden.
Abu Dun riss mit einem Fluch das Schwert hoch und setzte
ihm nach. Er schaffte jedoch nur zwei Schritte, ehe er mit einem
gemurmelten Fluch die Verfolgung abbrach und zurückkam.
»Das war wirklich klug von dir, Hexenmeister«, grollte er.
»Wir hätten das Biest erwischen können!«
Andrej antwortete nicht gleich, sondern sah einen Moment
konzentriert in die Richtung, in die der Werwolf verschwunden
war. Er konnte den schwächer werdenden Geruch des
Geschöpfes noch immer wittern. Es war ein vertrauter Geruch.
Und doch: Etwas hatte sich geändert. Zu all der unstillbaren
Blutgier, dem Zorn und Hass auf alles Lebendige und Atmende
war etwas Neues hinzugekommen, ein Empfinden, das alles
andere überlagerte und mit jedem Atemzug stärker wurde:
Verzweiflung. Eine dumpfe, bohrende Verzweiflung.
Ein Gefühl jenseits aller Hoffnung und allen Selbstbetruges,
das aus dem unumstößlichen Wissen um den bevorstehenden
Untergang gespeist wurde.
»Sie haben Angst«, sagte er leise.
»Angst.« Abu Dun sprach das Wort auf die gleiche Art aus,
auf die er vielleicht einen Schluck kostbaren Wein auf der
Zunge zergehen lassen würde. Dann nickte er. »Wenn die
anderen nicht besser sind als diese drei, dann haben sie allen
Grund, Angst zu haben.«
Andrej warf ihm einen verärgerten Blick zu, auf den Abu Dun
mit einem breiten Grinsen antwortete. Andrej schürzte wütend
die Lippen und drehte sich mit einem Ruck herum.
Mit zwei schnellen Schritten war er neben dem Werwolf, den
er mit dem Schwert niedergeschlagen hatte, und ließ sich neben
der verwundeten Kreatur auf ein Knie hinabsinken.
Das Geschöpf hatte das Bewusstsein verloren, und Andrej
musste kein zweites Mal hinsehen, um zu wissen, dass es auch
nicht wieder erwachen würde. Sein Schwerthieb hatte dem
Ungeheuer eine tiefe Wunde zugefügt. Sie blutete so stark, dass
der sterbende Werwolf in einer Blutlache lag; warmes,
pulsierendes Rot, das nach Verfall und Tod zugleich roch,
abstoßend und so unglaublich verlockend, dass er all seine
Willenskraft aufbieten musste, um sich nicht vorzubeugen und
die Lippen in den warmen Strom zu tauchen, die Lebenskraft
des Geschöpfes in sich aufzunehmen und …
»Andrej?«
Irgendetwas war in Abu Duns Stimme, das ihn aufschrecken
ließ. Andrej fuhr hoch und blinzelte verständnislos in Abu Duns
Gesicht, das mit einer Mischung aus Sorge und mühsam
unterdrücktem Entsetzen auf ihn hinabsah.
Er wusste nicht mehr, was er gesagt hatte, was er gedacht
hatte. Was er getan hatte.
»Ist alles in Ordnung?«
Allein das Zittern in Abu Duns Stimme verriet, dass ganz und
gar nichts in Ordnung war. Trotzdem nickte Andrej, stemmte
sich hoch und blickte einen Herzschlag lang verständnislos
seine eigenen Hände an. Sie waren schmutzig und dunkelrot
und schwarz von halb eingetrocknetem Blut. Nicht von seinem
Blut.
Er fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Kinn und
spürte eine klebrige Wärme, die an seinen Wangen und auf
seinen Lippen haftete. In seinem Mund war süßlicher
Kupfergeschmack, und er fühlte sich so lebendig und stark wie
seit Ewigkeiten nicht mehr, aber zugleich auch von einem
Entsetzen gepackt, das nicht
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