Der Todschlaeger
schaute sie an. Sogleich stiegen ihm große
Tränen in die Augen.
»Sie sind leidend, Herr Goujet?« murmelte sie.
»Bitte sagen Sie mir, was haben Sie denn?«
»Nichts, danke. Ich habe mich gestern zu sehr
überanstrengt. Ich will ein bißchen schlafen.«
Dann brach ihm das Herz, und er konnte den
Aufschrei nicht zurückhalten: »Ach, mein
Gott, mein Gott! Das durfte niemals sein,
niemals! Sie hatten es geschworen. Und nun
ist's geschehen, nun ist's geschehen! – Ach,
mein Gott! Das tut mir zu weh, gehen Sie!«
Und mit der Hand schickte er sie mit flehender
Sanftmut fort.
Sie trat nicht an das Bett heran; stumpfsinnig,
weil sie ihm nichts zu sagen hatte, um ihm
Erleichterung zu verschaffen, ging sie, wie er
es verlangte. Im Nebenzimmer nahm sie ihren
Korb wieder auf; sie ging noch immer nicht
hinaus, sie hätte gern ein passendes Wort
gefunden.
Frau Goujet setzte ihr Ausbessern fort, ohne
den Kopf zu heben. Sie war es, die schließlich
sagte:
»Also, guten Abend, schicken Sie mir meine
Wäsche zurück, wir rechnen später ab.«
»Ja, es ist recht, guten Abend«, stammelte
Gervaise.
Langsam schloß sie die Tür wieder, mit einem
letzten kurzen Blick auf diesen sauberen,
ordentlichen Haushalt, in dem sie etwas von
ihrer Ehrbarkeit zurückließ, wie ihr schien. Sie
kehrte in den Laden zurück und sah dumm aus
wie eine Kuh, die nach Hause geht, ohne sich
Sorgen über den Weg zu machen. Mama
Coupeau, die auf einem Stuhl neben der
Maschine saß, hatte zum ersten Mal das Bett
verlassen. Aber die Wäscherin machte ihr
nicht einmal einen Vorwurf; sie war zu
ermattet, ihre Knochen krank, als sei sie
geschlagen worden. Sie dachte, das Leben sei
am Ende doch zu schwer, und wenn man nicht
sofort verrecke, könne man sich doch nicht
selber das Herz herausreißen.
Nun pfiff Gervaise auf alles. Sie machte eine
unbestimmte Handbewegung, um die Leute
zum Teufel zu schicken. Bei jedem neuen
Verdruß vertiefte sie sich in das einzige
Vergnügen, ihre drei Mahlzeiten täglich zu
halten. Der Laden hätte einstürzen können;
vorausgesetzt, daß er sie nicht unter sich
begrub, wäre sie gern auf und davon
gegangen, ohne auch nur ein Hemd
mitzunehmen. Und der Laden stürzte ein, nicht
auf einen Schlag, sondern morgens und abends
ein bißchen. Einer nach dem anderen wurden
die Kunden ärgerlich und brachten ihre
Wäsche woandershin. Herr Madinier, Fräulein
Remanjou und sogar Boches waren zu Frau
Fauconnier zurückgekehrt, wo sie mehr
Pünktlichkeit vorfanden. Man bekam es
schließlich satt, ein Paar Strümpfe drei
Wochen lang zurückzufordern und Hemden
mit den Fettflecken vom vorigen Sonntag
wieder anzuziehen. Ohne sich beim Essen
stören zu lassen, schrie ihnen Gervaise »Gute
Reise« zu und versetzte ihnen gehörig eins,
indem sie sagte, sie sei hübsch froh, nicht
mehr in ihrem stinkenden Zeug herumwühlen
zu müssen. Ach ja, das ganze Viertel könne
von ihr wegbleiben, da würde sie einen
schönen Haufen Unrat los; außerdem wäre das
immerhin etwas Arbeit weniger. Vorläufig
behielt sie nur noch die schlechten
Zahlerinnen, die Dirnen, Weiber wie Frau
Gaudron, deren Wäsche keine Wäscherin in
der Rue Neuve de la Goutted'Or waschen
wollte, so stank sie. Der Laden, der war
verloren, sie hatte ihre letzte Arbeiterin, Frau
Putois, entlassen müssen; sie blieb allein mit
ihrem Lehrmädchen, dieser Schielliese
Augustine, die immer dümmer wurde, je
größer sie wurde. Und auch sie beide hatten
noch nicht immer Arbeit, ganze Nachmittage
lang schleppte sie ihren Hintern auf den
Hockern herum. Kurzum, ein völliges
Versinken. Es roch nach Verfall.
Je mehr Faulheit und Elend einzogen, desto
mehr zog natürlich auch die Unsauberkeit ein.
Man hätte diesen schönen himmelblauen
Laden nicht wiedererkannt, der einst Gervaises
Stolz gewesen. Die Holzverkleidungen und die
Scheiben des Schaufensters, die man
abzuwaschen vergaß, blieben von oben bis
unten vom Kot der Wagen bespritzt. Auf den
Brettern an der Messingstange machten sich
drei graue Lumpen breit, die von im Hospital
verstorbenen Kundinnen zurückgelassen
worden waren. Und im Innern war es noch
erbärmlicher: die Feuchtigkeit der unter der
Decke trocknenden Wäsche hatte die Tapete
losgelöst; die im Stil der Pompadourzeit
bemalte Leinwand breitete ihre Fetzen aus, die
gleich
staubschweren
Spinnweben
herabhingen; die zersprungene, von Stößen mit
dem Feuerhaken durchlöcherte
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