Der Todschlaeger
habe sie gerade seinen Arm losgelassen,
damit sie nicht zusammen unter der grellen
Helligkeit der Lampenglocken an der Tür
vorbeigingen.
Als Gervaise gegen fünf Uhr, steif geworden
und mit zerschlagenem Kreuz, erwachte, brach
sie in Schluchzen aus. Lantier war nicht
heimgekommen. Zum erstenmal schlief er
nicht zu Hause. Sie blieb auf dem Bettrand
unter dem verschossenen bemalten
Leinwandfetzen sitzen, der von der mit einer
Schnur an der Decke befestigten Stange
herabfiel. Und langsam blickte sie sich mit
ihren tränenumflorten Augen in dem elenden
möblierten Zimmer um, das mit einer
Nußbaumkommode, in der eine Schublade
fehlte, drei Strohgeflechtstühlen und einem
kleinen, schmierigen Tisch, auf dem ein
angestoßener Wasserkrug herumstand,
ausgestattet war. Für die Kinder hatte man ein
eisernes Bett hineingestellt, das die Kommode
versperrte und zwei Drittel des Raumes
einnahm. Gervaises und Lantiers Koffer, der
weit geöffnet in einer Ecke stand, zeigte seine
leeren Flanken und ganz hinten einen alten
Männerhut, der unter schmutzigen Hemden
und Socken vergraben war, während auf den
Lehnen der Möbel längs der Wände ein
zerlöcherter Schal und eine vom Dreck
zerfressene Hose hingen, der letzte Plunder,
den die Kleiderhändler nicht haben wollten.
Mitten auf dem Kamin lag zwischen zwei
nicht zusammenpassenden Zinkleuchtern ein
Bündel zartrosa Pfandscheine. Es war das
feine Zimmer des Hotels, das Zimmer im
ersten Stock, das auf den Boulevard
hinausging.
Die beiden Kinder indessen schliefen, Seite an
Seite auf demselben Kopfkissen liegend.
Claude, der acht Jahre alt war, hatte seine
Händchen nach oben aus der Decke
herausgestreckt und atmete mit langsamen
Zügen, während der erst vier Jahre alte Etienne
lächelte und einen Arm um den Hals seines
Bruders geschlungen hatte. Als ihre Mutter
ihren in Tränen schwimmenden Blick auf
ihnen ruhen ließ, überkam sie ein neuer
Weinkrampf, sie preßte ein Taschentuch auf
ihren Mund, um die leichten Schreie zu
ersticken, die ihr entfuhren. Und ohne daran zu
denken, ihre heruntergefallenen Pantoffeln
wieder anzuziehen, kehrte sie barfuß zum
Fenster zurück, wo sie, auf die Ellbogen
gestützt, wie in der Nacht ihr Warten
wiederaufnahm und in der Ferne die
Bürgersteige musterte. Das Hotel lag am
Boulevard de la Chapelle, links von der
Barrière Poissonnière. Es war ein
zweistöckiges baufälliges Gebäude, das bis
zum zweiten Stock dunkelrot angestrichen war
und vom Regen verfaulte Fensterläden hatte.
Oberhalb einer Laterne mit sternförmig
gesprungenen Scheiben gelang es einem,
zwischen den beiden Fenstern in großen
gelben Buchstaben, von deren Gips der
Schimmel Stücke vertilgt hatte, »Hotel
Boncœur, Besitzer Marsoullier« zu lesen.
Gervaise, der die Laterne im Wege war, reckte
sich in die Höhe, sie preßte ihr Taschentuch
noch immer auf die Lippen. Sie schaute nach
rechts in Richtung des Boulevard de
Rochechouart, wo Gruppen von Fleischern mit
blutigen Schürzen vor den Schlachthäusern
standen; und der frische Wind trug zuweilen
Gestank herüber, einen wilden Geruch nach
hingemetzelten Tieren. Sie schaute nach links,
überflog dabei das lange Band einer breiten
Straße und verweilte fast gegenüber von ihr
auf der weißen Masse des damals im Bau
befindlichen Hospitals Lariboisière3. Langsam
folgte sie von einem Ende des Horizonts zum
anderen der Stadtzollmauer, hinter der sie
nachts manchmal Schreie von Ermordeten
hörte. Und sie durchwühlte die entlegenen
Winkel, die finsteren, vor Feuchtigkeit und
Schmutz schwarzen Ecken voller Angst,
Lantiers Leiche, den Bauch von Messerstichen
durchbohrt, dort zu entdecken. Als sie über
dieses graue und endlose Gemäuer
hinwegblickte, das die Stadt mit einer öden
Einfassung umgab, gewahrte sie einen weiten
Lichtschein, einen Sonnenstaub, der schon von
dem morgendlichen Grollen von Paris erfüllt
war. Aber immer wieder schweifte sie mit
vorgestrecktem Hals zur Barrière Poissonnière
zurück und betäubte sich damit, die
ununterbrochene Woge von Menschen, Tieren
und Karren, die von den Anhöhen des
Montmartre und von La Chapelle herabwallte,
zwischen den beiden gedrungenen
Zollhäuschen hindurchfließen zu sehen. Dort
war ein Herdengetrampel, eine Menge, die
durch jähe Stockungen in Lachen auf dem
Fahrdamm ausgebreitet wurde, ein endloser
Vorbeimarsch von Arbeitern, die mit ihrem
Handwerkszeug auf dem Rücken und
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