Der Tomorrow-Code - Thriller
jede Spur. Sein Vater hatte den Hochseil-Parcours eigenhändig gebaut; er bestand zwar nur aus dicken Seilen und einer hölzernen Plattformals Ausgangspunkt, war aber sicher, wenn auch an einigen Stellen ein wenig wackelig. Ein kräftiges Seil, das so dick war wie das Ankerseil eines Segelschiffs, bildete die Basis für die Füße, und in Schulterhöhe befanden sich rechts und links zwei etwas dünnere Seile als Handläufe.
Tane machte sich nicht die Mühe, das Türchen der Plattform zu öffnen; er schwang sich einfach drüber und balancierte die ersten paar Meter auf dem Fußseil wie ein Seiltänzer, ohne sich festzuhalten.
Er kam sehr oft hierher. Manchmal, weil ihm einfach danach war; an anderen Tagen schienen ihn die Abendlieder der einheimischen Vögel zu rufen.
Gegen Abend war eine leichte Brise aufgekommen, aber die Sonne war noch nicht hinter den Bergketten verschwunden, sodass es noch angenehm warm war. Die Blätter an den Bäumen, zwischen denen er hindurchging, raschelten leise, aber die Äste und die Seile blieben still. Und um ihn herum erklangen die Stimmen der Vögel in einem wunderbaren Chor. Er fiel in ihre Lieder ein, pfiff leise eine beliebige, unbestimmte Melodie vor sich hin, sorglose Töne, die in die höchsten Wipfel aufstiegen.
Auch sein Vater ging oft über den Pfad. Er meinte, ein Gang am Abend durch die Wipfel würde jedes Abendprogramm im Fernsehen in den Schatten stellen, und Tane fand das auch.
Seinen Vater hatte er seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen – er befand sich auf einer seiner Buschtouren für ein neues Gemäldeprojekt. Das war an dem Tag gewesen, an dem Fatboy sein Moko vorgeführt hatte – irgendwie hatte er es geschafft, seine Mutter zu überreden, vorher nichts darüber zu verraten.
Fatboy war einfach ins Wohnzimmer spaziert und hatte erst dort den Motorradhelm abgenommen. Sein Vater hatte ihn zuerst überrascht angesehen, doch dann hatte er breitgelächelt, ein stolzes Glitzern in den Augen. Fatboy und sein Vater hatten Stirn und Nase zum
hongi
aneinandergepresst, der traditionellen Maori-Begrüßung. Dann hatte Dad seinen ältesten Sohn umarmt, und Fatboy, der in seiner Lederkleidung immer so betont cool auftretende Möchtegern-Rockstar, hatte ihn ebenfalls an sich gedrückt, ohne Verlegenheit und ohne westliches Rückenklopfen.
Als sich Tane jetzt wieder an diese Szene erinnerte, schüttelte er verwundert den Kopf. Er und sein Bruder hätten nicht unterschiedlicher sein können. Er, Tane, beschäftigte sich mit kryptischen Botschaften aus der Zukunft, und sein Bruder Fatboy lebte in der Vergangenheit.
Aber wo zum Teufel war Fatboy eigentlich? Er war nicht ans Telefon gegangen, und als sie versucht hatten, ihn auf seinem Handy zu erreichen, waren sie prompt in der Mailbox gelandet. Hatte er die Ziehung gar nicht gesehen? Wusste er überhaupt Bescheid? Vielleicht wusste er es längst, und
vielleicht hatte er sich gerade deshalb nicht gemeldet!
Ein Tui landete auf dem Handseil, nicht weit von Tanes linker Hand entfernt. Weil das auffällige weiße Federnbüschel am Hals einem winzigen Pastorenkragen ähnelte, hatten die ersten europäischen Siedler den Vogel auch »Pfaffenvogel« genannt. Tane war regungslos stehen geblieben. Der Tui beäugte ihn einen Moment lang misstrauisch, dann plusterte er sein Federkleid auf und begann zu singen. Der Ruf des Tui war legendär, und die Vögel schienen jedes Mal eine andere Melodie zu singen. Dieser Vogel hier sang an diesem Abend ein langsames, rhythmisches Lied, das wie ein Wiegenlied klang.
Nach einer Weile verstummte der Vogel und schaute Tane Beifall heischend an, wobei er den Kopf ruckartig von einer Seite zur anderen drehte.
Tane hob langsam die Hand und streckte einen Finger aus, als Einladung für den Vogel, auf seinen Finger zuhüpfen. Der Tui wich einen Schritt auf dem Seil zurück. Ich habe keine Angst, schien er sagen zu wollen, aber ich bin auch nicht blöd. Dann wirbelte er plötzlich herum und verschwand zwischen den Ästen eines Macrocarpa-Baums, der in der Nähe stand.
Tane blieb, wo er war, und blickte über das Tal zu den Türmen und Dächern der Stadt hinüber.
Es wäre wirklich schade, wenn das alles zu Ende wäre. Aber er wusste, dass es so kommen musste. Eines Tages würden die Stadtplaner auch hier auftauchen, und ihnen würden Traktoren, Lastwagen und Planierraupen folgen. Schon hinter dem nächsten Hügelkamm konnte er im benachbarten Tal eine neue braune Narbe ausmachen – ein
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