Der Torwächter Bd. 1 - Der Torwächter
die Entfernung zwischen ihnen groß war, konnte er verstehen, was sie ihm sagte. »Wir sehen uns wieder. Sehr bald.«
Ihr Körper spannte sich an und mit einigen schnellen, eleganten Sprüngen war sie verschwunden.
23
Der Weg zurück war mühsam. Waren sie auf dem Hinweg einfach quer durch die Menge gegangen, musste Simon jetzt jedem Menschen ausweichen, der ihnen regungslos im Weg stand, gefangen in der Zeit. Jeder und alles stellte ein unverrückbares Hindernis dar. Selbst der Nebel aus feinsten Wassertröpfchen, der am Brunnen in der Luft stand, war für sie undurchdringbar. Es war wie in einem gigantischen Labyrinth: Manche Wege, die sie einschlugen, waren plötzlich versperrt, dann taten sich Lücken zwischen zwei oder drei erstarrten Menschen auf. Gassen, die breit schienen, wurden plötzlich schmal, sodass sie nicht hindurchkamen und umkehren mussten. Ira, die Simon willenlos folgte, machte die Sache nicht leichter.
Schließlich erreichten sie den Eingang zum U-Bahnhof. Die Rolltreppen standen still, so wie sich auch sonst nichts regte. Simon zog Ira die Stufen hinab, sie stolperte ihm nach, die Augen geschlossen. Auf der Hälfte des langen Abstieges versperrte eine Gruppe von Frauen die Treppe. Die drei lachten mit erstarrten Gesichtern, eine von ihnen musste gerade einen Witz gemacht haben, als Ashakida die Zeit angehalten hatte. Simon versuchte sich an den Frauen vorbeizuquetschen, dochauf beiden Seiten war der Spalt zu schmal. Auch zwischen ihren Beinen konnten sie nicht hindurchkriechen.
Simon blickte hinüber zur anderen Rolltreppe. Dort war der Weg frei. Sie würden hinüberklettern müssen, es war die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb, wollten sie nicht umkehren. Aber es würde nicht so einfach sein, auf die andere Seite zu kommen. Die beiden Rolltreppen waren nicht direkt nebeneinander gebaut, eine glatte, schräge Fläche, vielleicht zwei Meter breit, trennte die beiden Treppen voneinander.
Simon kletterte über das Geländer hinauf auf die Schräge. Behutsam zog er Ira mit sich. Die Augen geschlossen, stieß sie gegen die Seitenwand der Rolltreppe, und ihr Oberkörper klappte vornüber. Erst als er sich über sie beugte und eines ihrer Beine anhob, begann sie, über den Rand zu klettern.
Simon wartete, bis auch Ira auf der Schräge saß. Dann stemmte er die Gummisohlen seiner Turnschuhe auf die glatte Fläche und begann damit, sich vorsichtig auf die andere Seite zu schieben. Ira folgte ihm. Doch anders als er hielt sie sich nicht fest, und ehe Simon es verhindern konnte, glitt sie ab und geriet ins Rutschen. Verzweifelt versuchte er, sie zu packen, aber auch er verlor seinen Halt. Gemeinsam rutschten sie die Schräge hinab.
Schnell nahm ihr Tempo zu. Simon griff nach dem Geländer der Rolltreppe, doch es glitt unter seinen Hände hindurch, bis seine Handflächen heiß wurden. Hastig ließ er es los. Sie wurden immer schneller, stürzten in einem rasenden Tempo dem U-Bahnhof entgegen. Simon zog Ira an sich, er beugte sich schützend über sie und zog seinen Kopf ein. Wie eine Kugel schossen sie auf das Ende der Treppe zu. Dann die letzten Meter, die Schräge machte einen Knick, und sie flogen, wie von einem Katapult abgeschossen, in die Bahnhofshalle.
Der Aufprall war schmerzhaft. Er landete auf der Seite, Ira schlug zuerst mit ihren Beinen auf. Doch während er aufschrie, schien sie nichts zu spüren, ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Hilflos schlitterten sie über den glänzenden Boden. Simon versuchte, sie zu bremsen, doch es war vergeblich, der Boden war wie poliert. Erschrocken sah er, worauf sie zuschossen: Vor ihnen befand sich ein Blumenstand, der Boden vor dem Verkaufspavillon stand voller Vasen und blumengefüllter Eimer. Simon wusste, jede Vase, jeder dieser Eimer war jetzt wie ein Felsbrocken, unverrückbar und hart. Er kniff die Augen zusammen, zog Ira an sich und wartete auf den Schmerz.
Plötzlich war Lärm um sie herum, Bewegung, dann erschrockene Schreie. In der gleichen Sekunde schossen sie in den Blumenstand hinein. Wie Kegel flogen die Eimer zur Seite und Blumen segelten durch die Luft. Ira schrie neben ihm, sie klammerte sich an ihm fest, voller Panik. Dann wurden sie langsamer, blieben schließlich in einem Durcheinander von Blumen, Scherben und umgestürzten Eimern liegen.
Simon sah auf. Die Menschen um sie herum bewegten sich, als wäre nie etwas geschehen. Die meisten gingen ungerührt durch die Bahnhofshalle, manche waren stehen geblieben und schauten zu
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