Der Torwächter Bd. 2 - Die verlorene Stadt
war es still in der Hütte. Allen tat es gut, sich hinzulegen und auszustrecken. Die Leopardin schlief sofort, kaum dass sie ihren Kopf auf ihre Pfoten gelegt hatte. Auch die anderen atmeten bald gleichmäßig. Doch Simon fand keine Ruhe, obwohl er todmüde war. Zu viel war geschehen, als dass er schlafen konnte, über zu viele Dinge musste er nachdenken.
Je länger er grübelte, desto seltsamer kam ihm die Welt vor, in der er sich befand. Zunächst war es ihm gar nicht aufgefallen, die Ereignisse der vergangenen Tage hatten seinen Blick abgelenkt. Doch inzwischen hatte er den Eindruck, dass er nicht nur in einer anderen Welt, sondern in einer längst vergangenen Zeit gelandet war. War es im Dorf noch verständlich gewesen, dass die Menschen nach dem großen Feuer ein karges Leben führten, in dem es vieles nicht gab, was für ihn selbstverständlich war, so wurde ihm erst jetzt richtig bewusst, wie anders diese Welt eigentlich war. Und dass, obwohl doch vieles fast identisch zu sein schien. Simon dachte an den Tag zurück, als er die bewusstlose Ashakida zum Strand gebracht hatte. Die Straßen der Vorstadt, durch die er gegangen war, hatten so ausgesehen, wie er sie von seinem Besuch in der Stadt zu Hause kannte. Aber gleichzeitig waren sie irgendwie altmodisch gewesen. Die Straßenlaternen, die Schaufenster, die Schilder am Straßenrand, die Autos, alles war wie aus einer vergangenen Zeit. Simon musste an das Fotoalbum seiner Oma denken, mit den Bildern von ihr, als sie eine junge Frau gewesen war. Die Straßen auf den Fotos hatten ähnlich ausgesehen.
Was war hier in dieser Welt geschehen?
Als Drhan seine Heimat zerstört und Gula erobert hatte, überlegte Simon, hatte er alles mit Eis überzogen und so das Leben vernichtet. Genau das Gleiche musste auch hier in Avaritia passiert sein. Es gab nur einen Unterschied: Avaritia – die Welt, in der sie jetzt waren – hatte Drhan schon vor vielen Jahrzehnten erobert, als Iras Oma eine junge Frau gewesen war. Von diesem Tag an lebte niemand mehr hier draußen in der Vorstadt, nichts war seither verändert worden – es war, als wäre die Zeit angehalten worden.
Doch Iras Oma hatte noch etwas erzählt – Simon wurde fast verrückt bei dem Gedanken. In dieser Nacht war er bei ihr aufgetaucht und hatte ihr das Paket gegeben. Ein Paket, das er an sich selbst adressiert hatte. Und das sie ihm jetzt überreicht hatte.
Wie konnte er vor so vielen Jahren schon einmal hier gewesen sein? Das war unmöglich!
Je länger er darüber nachdachte, desto verrückter kam ihm alles vor. Vielleicht hatte sich Iras Oma doch geirrt? Vielleicht hatte sie ihn mit jemandem verwechselt?
Aber es war seine Handschrift auf dem Päckchen gewesen, da war er sich sicher!
Simon setzte sich auf und tastete nach der Taschenlampe von Ira. Er deckte den Lichtstrahl mit seiner Hand ab und kramte im Rucksack nach dem Inhalt des Päckchens. Endlich fand er das Tuch, in das er den seltsamen Handschuh gewickelt hatte. Vorsichtig löste er den Knoten und schlug den Stoff zurück. Das eigenartige Gewebe des Handschuhs blinkte stumpf.
Simon zögerte. Vorsichtig schob er seine Finger in die Hülle. Leise klickerte die Schuppenhaut. Die winzigen Plättchen sahen aus wie Metall, doch sie waren so leicht, als wären sie aus Papier gemacht. Dabei waren sie hart wie Stahl. Behutsam strich Simon über den seltsamen Stoff. Er hatte ein solches Material noch nie gesehen.
Ihm fiel eine runde Fläche auf, die den Handrücken bedeckte, leicht erhaben wie ein flacher Stein. Sie war warm, zumindest kam Simon das so vor. Oder bildete er sich das ein? Direkt darunter entdeckte er einen winzigen Schriftzug. Er musste genau hinsehen, bis er das Wort erkannte: APHYR .
Ashakida knurrte ärgerlich im Halbschlaf. »Mach das Licht aus. Und leg dich endlich hin.«
Eilig steckte Simon den Handschuh zurück in den Rucksack, dann schaltete er die Taschenlampe aus und legte sich wieder auf die Pritsche. Vorsichtig kuschelte er sich an Ashakida. Die Leopardin knurrte leise, doch sie rückte nicht fort.
Simon spürte, wie ihn die Müdigkeit überkam. Woher, das war sein letzter Gedanke, hatte Ira eigentlich ihre Taschenlampe, wenn doch alles hier in dieser Welt wie in vergangenen Zeiten war?
Unruhig schlief er ein.
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24
Als Simon am nächsten Morgen erwachte, war das Lager neben ihm leer. Erschöpft von der Nacht, richtete er sich auf und rieb sich die Augen. Dann sah er sich um. Ashakida war fort, und auch die
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