Der Torwächter Bd. 2 - Die verlorene Stadt
uns entdecken.« Er winkte zwei Jungen zu sich. »Verbindet ihnen die Augen.«
Simon stutzte. »Was soll das?«
Der Rothaarige musterte ihn abweisend. »Denkst du, wir verraten euch, wo unser Versteck ist?«
Simon wollte protestieren, doch bevor er etwas sagen konnte, zupfte das blonde Mädchen am Ärmel des Rothaarigen. »Die schaffen das niemals, wenn sie nichts sehen können.« Sie warf einen kurzen Blick zu Simon und lächelte schüchtern.
Der Rothaarige zögerte und suchte die Blicke der anderen. Sie waren der gleichen Meinung. Schließlich nickte er. »Na gut. Dann lasst uns hier aufräumen.«
Auf seinen Befehl hin halfen alle, die zum Trocknen ausgelegten Kleidungsstücke und Gegenstände einzusammeln und zu verstauen. Dann richteten die Kinder den Raum so her, als sei er niemals betreten worden. Sogar die Dusche und die Vorhänge wischten sie mit den Handtüchern trocken. Die gebrauchten Tücher nahmen sie mit. Nacheinander gingen alle durch die zweite Tür hinaus, der Rothaarige verließ als Letzter das fensterlose Zimmer und schloss nach einem prüfenden Blick die Tür hinter sich.
Bald zog eine lange Kolonne durch die unterirdischen Gänge der Stadt. Sie konnten recht gut sehen, immer wieder erhellten Glühlampen oder flackernde Leuchtröhren die schummerigen Gänge. Die Kinder waren angespannt, niemand sagte etwas. Alle strengten sich an, möglichst leise zu sein. Auch Simon, Ira und Ashakida versuchten, keine Geräusche zu machen, was der fast lautlos schleichenden Leopardin mühelos gelang. Die Kinder beobachteten den gefleckten Körper der Raubkatze fasziniert.
Simon war es zunächst unangenehm gewesen, in seiner dünnen Papierkleidung zwischen all den anderen zu sein. Auch Ira, die ja die gleichen Kleidungsstücke trug, mochte es nicht, das spürte er. Doch dann schob Simon sein Gefühl beiseite. Sie hatten wirklich größere Probleme als die Klamotten, die sie trugen. Trotzdem achtete er darauf, dass er nirgendwo hängen blieb – dass sein Hemd oder gar seine Hose vor den Augen der anderen zeriss, musste wirklich nicht sein.
Der Untergrund des Stadtzentrums glich einem Labyrinth. Doch die Kinder kannten sich aus in den Katakomben ihrer Stadt. So selbstverständlich Ira über die Mauern des Dorfes geklettert war, so selbstverständlich nutzten die Kinder die unterirdischen Gänge. Sie gingen durch Versorgungstunnel und krochen durch Kabelschächte, sie kletterten Leitern hinauf und rutschten Schrägen hinab, sie passierten die Keller von alten Wohnhäusern und durchquerten schmale Öffnungen, die sie in Mauern gebrochen hatten. Einmal krabbelten sie auf ihrem Weg sogar durch den trockenen Abschnitt eines Abwasserkanals. Immer wieder stießen sie auf Kinder, die an Kreuzungen oder Abzweigungen Wache hielten und die den Rothaarigen mit einem Nicken begrüßten. Er schien hier so etwas wie der Anführer zu sein.
Nach einer Weile erreichten sie eine geschickt getarnte Tür. Der Rothaarige blickte prüfend um sich, dann entriegelte er das Schloss und öffnete den Durchgang. Einer nach dem anderen ging hindurch. Sie betraten ein großes Treppenhaus, es war ein breiter Schacht, darin eine Betontreppe, die von oben kam und hinab in die Tiefe führte. Fingerbreite Leuchtstreifen erhellten die Stufen.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, wich die Anspannung aus den Körpern der Kinder. Sie begannen zu reden und zu lachen, während sie abwärtsgingen, manche von ihnen hüpften die Stufen hinab.
Der Rothaarige lächelte ein wenig. »Wir sind gleich da.«
Das Treppenhaus war beeindruckend, es führte weit in die Tiefe und war so breit gebaut, dass viele Tausend Menschen es gleichzeitig benutzen konnten. Eben noch hatte Simon das Gefühl gehabt, mit vielen Kindern unterwegs zu sein – jetzt, in dieser Umgebung, kam ihm die Gruppe klein vor. Absatz für Absatz wand sich die Treppe hinab, sie mussten sich inzwischen weit unter der Erde befinden. Irgendwann hörte Simon auf, die Stufen zu zählen, es waren einfach zu viele.
Ihr Weg endete vor einer schweren Metalltür. Der Rothaarige klopfte ein rhythmisches Signal, das von innen beantwortet und von ihm noch einmal wiederholt wurde. Dann krachten Riegel und knirschend drehte sich die Tür in den Scharnieren. Zwei Jungen drückten sie mit aller Kraft auf, bis die Stahltür weit genug zurückgeschwungen war.
Die Kinder lachten und redeten, während sie durch die Türöffnung strömten.
Der Rothaarige drehte sich zu Simon, Ira und Ashakida
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