Der Tote am Lido
auftauchen, und dann war sie ihm eine Erklärung schuldig.
35
Amanda wollte auf die Klingel drücken, als ihr der Türsummer zuvorkam. Wie immer hatte er oben am Fenster gewartet. Sie lief die drei Stockwerke hoch, wie immer stand er in der Tür, wie immer sagte er: »Du weißt, dass wir auch einen Aufzug haben?«
»Ja, das weiß ich«, lachte sie.
»Du wirst dir doch keine Sorgen um deine Figur machen?«
»Nein.«
Der Hund bellte Amanda freudig an und wedelte mit dem Schwanz. Der alte Mann hatte sein bestes Hemd, einen neuen Pullunder und eine neue Hose angezogen. Sein schütteres Haar war frisch geschnitten und gewaschen. Im Vergleich zu ihrem ersten Besuch sah er zehn Jahre jünger aus.
Sie trug das Essen in die Küche, verteilte die Plastikbehälter um den Platz des Alten, nahm sich ein Glas Leitungswasser, ließ sich das Kleingeld für die Zeitung geben und setzte sich an den Tisch.
Der Mann hätte die Zeitung zum selben Preis und früher haben können – er führte schon morgens um halb acht den Hund Gassi –, aber er fand die Zeitunginteressanter, wenn Amanda sie ihm mitbrachte. Sie las die Schlagzeilen vor: »Neueröffnung des Zentralkrankenhauses verzögert sich.«
Er schüttelte den Kopf. »Diese Halunken. Um sich zu bereichern, planen sie das größte Krankenhaus der Region auf Sumpfland, und dann wundern sie sich, dass es versinkt, bevor sie einziehen können.«
»Soll ich den Artikel vorlesen?«
»Nein.«
»Präsident der SPAL fordert mehr Engagement von der Kommune.«
»Engagement oder Geld?«, fragte der Alte.
»Regierung erwartet Belebung der Konjunktur.« Der Mann lachte. »Bist du sicher, dass das die neueste Zeitung ist? Gestern und vorgestern stand dasselbe drinnen.«
»Also keinen von diesen Artikeln?«
»Nein, was gibt es sonst noch?«
»Todesfall Marco Clerici. Die Anwälte der Familie verlangen Aufklärung.«
Der alte Mann hatte einen Moment mit der Gabel innegehalten, dann räusperte er sich und sagte: »Ist auch keine Neuigkeit.«
»Aber hier steht, dass der Prozess gegen die Polizisten nächste Woche fortgesetzt wird und dass beide Parteien einen Durchbruch angekündigt haben.«
»Was soll das schon sein?«
»Ich lese es Ihnen vor.«
Noch ehe er protestieren konnte, setzte Amanda an: »Der für kommenden Montag anberaumte Verhandlungstagin Sachen Marco Clerici verspricht eine sensationelle Wendung in dem Fall. Während die Verteidigung der drei angeklagten Polizeibeamten entlastende Gutachten vorlegen will, pochen die Anwälte der Familie Clerici, die als Nebenkläger auftritt, auf die vielen Lücken in den Unterlagen der Polizeibehörden. Durch eine genaue Rekonstruktion der Unglücksnacht sei man sicher, eine plausible Erklärung für diese Lücken aufzeigen zu können. Die systematische Vertuschung der Wahrheit, die Einschüchterung von Zeugen der ersten Stunde und die hysterische Reaktion auf jedwede Nachfrage ließen nur eine Interpretation zu: schlechtes Gewissen. Und diesem schlechten Gewissen werde man die Maske herunterreißen. Mit Hilfe eines Schlüsselzeugen.«
Der alte Mann winkte ab. Er ruckelte nervös auf seinem Stuhl hin und her, versuchte zu essen und legte das Besteck auf den Tisch.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Amanda. »Keinen Hunger?«
»Schmeckt heute wirklich nicht besonders.«
Der Hund blickte sein Herrchen mit treuen Augen an. Dieser tätschelte ihm den Kopf, kraulte ihn hinter den Ohren, und Amanda sagte: »Geben Sie es ihm. Ich verpfeife Sie nicht.«
Sie stand auf und trat wieder ans Fenster. Während der Hund schmatzte, sah sie hinunter auf den Grünstreifen, auf dem die Kerzen für Marco flackerten. Sie dachte an seine Fingerkuppen, die ihre Nackenhaare gestreichelt hatten, die Sonne auf der Piazza Ariostea,sie hatten dagelegen und nebeneinander in den Himmel gesehen. Während die anderen um sie herum gelärmt und gebolzt hatten, hatte er ihre Haare um seine Finger gewickelt, bis sie Gänsehaut bekommen hatte. Er kannte alle Stellen an ihrem Körper, an denen sie berührt werden wollte, und er kannte alle Worte, die sie berührten.
»Ihre Viren fressen sich in deine Dateien, fressen Erinnerung, fressen Hoffnung und geben dir Angst dafür … Formatier deinen Kopf neu. Alle Daten löschen? Ja!«, hatte er gesungen.
Sie spürte das Loch, das er in ihrem Bauch hinterlassen hatte, das von Woche zu Woche größer wurde. Die Zeit heilt alle Wunden, hatten sie gesagt, die Erinnerungen werden verblassen. Aber je undeutlicher sein Gesicht,
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