Der Tote am Lido
schreckte sie zurück und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er sah die Schürfwunden an ihren Ellbogen, die Schnitte an den Handgelenken.
»Ich würde gerne kurz mit dir allein reden«, sagte Lunau zu Silvia. Was er ihr zu beichten hatte, schien auf einmal nebensächlich.
Er schloss die Tür und fragte: »Hast du Sara untersuchen lassen?«
»Nein.«
»Reagiert sie auf deine Stimme?«
Silvia biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Und Berührungen erträgt sie gar nicht.«
Wieder bauten sich vor Lunau Bilder auf, gespenstisch, ungeheuerlich. Er sah Michaels glänzenden Körper vor sich und bereute in diesem Moment fast, dass er ihn verschont hatte. »Hast du dir ihre Verletzungen genauer angesehen?«
»Natürlich«, antwortete sie.
»Hat Michael sie …«
»Nein.« Silvias Antwort war so laut und bestimmt gekommen, dass Lunau ihr nicht traute.
»Du solltest den Rat eines Psychologen einholen. Sie braucht professionelle Hilfe.«
»Ich traue Psychologen nicht.«
»Ich auch nicht. Aber du kannst dir zumindest anhören, wie sie die Lage einschätzen. Falls Sara eine posttraumatische Belastungsstörung hat, muss diese behandelt werden.«
»Wodurch?«
»Ich weiß nicht. Aber dazu gibt es Spezialisten.«
»Spezialisten«, sagte Silvia verächtlich. »Niemand kennt mein Kind so gut wie ich.«
»Ich weiß. Aber den Zustand, in dem Sara sich jetzt befindet, kennen andere vielleicht besser.«
Silvia hob den Kopf und sah ihn kalt und desinteressiert an. »Das wolltest du mir sagen? Deswegen bist du gekommen, um mir Ratschläge zu geben?«
»Nein. Ich war bei Balboni.«
Er sah, wie sie sich verkrampfte. Er wollte sich in die Ausrede flüchten, dass Balboni ihn erpresst habe, mit einer möglichen Inspektion durch das Jugendamt, mit einem möglichen Entzug des Sorgerechts für Sara. Doch das wäre nur die halbe Wahrheit gewesen. Die größere Hälfte der Wahrheit war, dass er froh gewesen war, seine Aussage machen zu können. Er hatte an Balbonis Drohung nicht wirklich geglaubt.
»Ich habe meine Aussage gemacht. Ich habe gesagt, dass Michael Duhula Sara entführt hat.«
Einen Moment lang dachte Lunau, Silvia würde nach dem nächstbesten Messer greifen, doch sie war dazu nicht in der Lage. Sie drehte sich um, hielt sich an der Arbeitsplatte fest und wand sich in leisen Zuckungen.
»Er hat mir versprochen, dass sie Sara nicht befragen werden. Sie muss nichts erzählen, es wird keine Gegenüberstellung geben. Sie wird mit der Ermittlung nicht konfrontiert werden. Nur du musst eine Aussage machen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum?«, fragte sie. »Warum hast du das getan? Wird es denn niemals aufhören?«
»Ich habe es getan, damit es aufhört. Wir hätten sofort die Wahrheit sagen müssen.«
Sie schüttelte immer noch den Kopf.
Es wurde leise an die Tür geklopft. Da Silvia nicht reagierte, wiederholte sich das Klopfen, und dann hörte man Mirkos Stimme: »Mamma? Stimmt es, dass Kaspar da ist?«
Sie antwortete nicht, und die Klinke wurde langsam gedrückt. Eine Haarsträhne von Mirko fiel in den Türspalt, die spitze Nase, ein unsicheres Lächeln.
»Hallo, mein Großer«, sagte Lunau.
»Hallo«, antwortete Mirko und schaute auf seine Mutter, wobei er den Mund verzog, halb erschrocken, halb missbilligend. Lunau wusste nicht, ob die Missbilligung sich auf ihn oder Mirkos Mutter bezog.
Silvia sah Lunau mit einem Blick an, der eindeutig war. Er sollte gehen.
Lunau betrachtete Mirko, deutete einen Gruß an, dann verließ er die Küche, verabschiedete sich auch von Enrico mit einem Kopfnicken und öffnete die Haustür.
Die Sommerluft schlug ihm heiß entgegen, und er schämte sich, dass er so etwas wie Erleichterung spürte.
37
Amanda hielt Joy in den Armen und flüsterte: »Du musst Vertrauen haben. Es kann dir nichts geschehen.«
Sie fühlte sich mies, zuerst hatte sie Lunau belogen,und jetzt belog sie das Mädchen. Das Frauenhaus, in dem Joy sich versteckte, war nur ein gewöhnliches Fünf-Zimmer-Apartment in einem Mietshaus an der Via Porta Mare. Es gab keine Zäune, keine Panzertüren, keine Wachleute. Der einzige Schutz war, dass die Adresse geheim war.
»Du hast morgen Nachmittag deinen Termin auf dem Kommissariat. Mach deine Aussage, dann wird Michael verhaftet, und du bist frei.«
»Ja, ich vielleicht. Aber hast du einmal an meine Familie zu Hause gedacht? Wir sind mit Michaels Clan verwandt. Du weißt nicht, wozu nigerianische Männer fähig sind. Meine Eltern sind arm, ich
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