Der Tote am Lido
Miene auf. »Michael Duhula? Gibt es etwas, wofür er Ihrer Meinung nach nicht verantwortlich ist? Wozu sollte er so etwas tun?«
»Er wollte aus mir herauspressen, wo Joy sich versteckt hält.«
Balbonis Stirn zog sich in Furchen.
»Michael hat Joy nach Europa verschleppt und zur Prostitution gezwungen. Joy will ihn deswegen anzeigen. Das bringt ihn wegen Menschenhandels und Zuhälterei ins Gefängnis, und das musste er unbedingt verhindern.«
Balboni winkte ab. Er wartete auf eine Schilderung der Ereignisse.
Lunau lieferte sie. Mit sämtlichen Einzelheiten, außer der Verwendung der Insulinspritze. Balboni schüttelte den Kopf und blickte auf die Uhr. Es war halb elf. »Sie irren sich.«
»Michael Duhula hat mir das Veilchen verpasst. Ich irre mich nicht.«
»Ich glaube, das wird eine etwas längere Unterredung. Essen Sie eine Kleinigkeit mit mir?«
»Nein, danke.«
»Ich brauche jetzt irgendwas«, sagte Balboni mürrisch.
Sie gingen durch das von halligen Stimmen, Türenknallen und schlurfenden Schritten erfüllte Treppenhaus und traten auf die Via Ercole d’Este. Die Hitze blies ihnen wie aus einem Auspuffrohr entgegen, und Lunau hatte das Gefühl, unter seinen Schritten schaukle die Welt. Er schluckte einen Schwall Magensäure hinunter und trottete hinter dem Polizeibeamten her, in dem schmalen Schatten, der sich am Fuß einer hohen Mauer hielt. Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Und Lunau brauchte einen langen Anlauf für eine simple Frage: »Haben Sie Michael schon wegen des Mordes verhört?«
»Gleich sage ich Ihnen mehr.«
»Er war sein Nebenbuhler.«
»Das behauptet Ihre Joy. So wie Ihre Joy behauptet, er sei ihr Zuhälter.«
»Das ist doch offensichtlich.«
»Für mich nicht. Und schon gar nicht für Michaels Verteidiger. Was Ihre Joy erzählt, ist nämlich reichlich unrealistisch.«
Balboni bog in den Parco Massari ein, in dem die Mittagssonne grelle Kleckse zwischen die alten Zedern warf. Die Singvögel, der Wind, ja selbst die Zikaden schwiegen und warteten nur darauf, dass die Hitze nachlassen würde. Niemand war zu sehen, nur derWärter des Toilettenhäuschens, der wie ohnmächtig auf einem Stuhl im Schatten hing.
»Inwiefern?«
»Die Nigerianerinnen hier haben keine männlichen Zuhälter, sondern eine Madame, meist selbst ehemalige Prostituierte, die als Ziehmutter und Feldwebel fungiert. Die Mädchen werden auch nicht verschleppt wie die Osteuropäerinnen. Früher mag das so gewesen sein, aber heutzutage wissen sie, was sie hier erwartet.«
»Kein Mädchen prostituiert sich freiwillig.«
»Der Druck kommt aus der Heimat. Hat eine Familie reichlich Kinder, dann wird gewöhnlich die weibliche Erstgeborene nach Europa geschickt. Alles ist perfekt organisiert. Sie können zwischen der Luxusvariante zu 60 000 Euro wählen, das heißt, mit Flug nach Paris und Eisenbahnfahrt nach Turin. Wer es billiger haben will, muss über den Landweg durch Afrika, mit Trucks, Schlepperbanden in der Wüste, mit Internierungen, Vergewaltigungen, Lösegeldzahlungen, dann kommt die Überfahrt nach Lampedusa. Das ist strapaziös und gefährlich, kostet insgesamt aber nur 40 000 Euro.«
»Wozu sollte eine Familie, die so viel Geld auf der hohen Kante hat, eine Tochter opfern?«
»Niemand hat dieses Geld auf der hohen Kante. Das sind Schulden, mit denen die Mädchen hier eintreffen und die sie der Madame abzubezahlen haben. Bei gutem Umsatz dauert das zwei, drei Jahre.«
»Und dann?«
»Dann berufen sie sich auf Artikel 18 des Einwanderungsgesetzes …«
Balboni hatte sich unter einen Sonnenschirm gesetzt und dem Barbetreiber gewinkt. Dann sah er Lunaus ratlose Miene.
»Artikel 18 billigt Opfern von Menschenhandel einen besonderen Schutz zu. Die Mädchen behaupten, verschleppt worden zu sein, zeigen irgendjemanden als ihren Zuhälter an und bekommen dadurch eine Aufenthaltsgenehmigung.«
»Joy ist noch nicht so lange hier.«
»Sie sucht nach einer Abkürzung.«
»Sie meinen also, Joy wollte einfach nur den Liebhaber wechseln, Michael loswerden und sich selbst reguläre Papiere besorgen, um mit Meseret durchzubrennen?«
»Das ist die nächste Ente.«
Balboni bestellte einen Salat und ein Glas Wasser. Lunau orderte ebenfalls Wasser. Langsam stieg ein Groll gegen Amanda in ihm hoch. Wofür hatte sie sich einspannen lassen? Und wofür hatte sie Lunau eingespannt?
Balboni fuhr fort: »Dieser Meseret ist Senegalese. Senegalesen lassen sich nicht auf Nigerianerinnen ein.«
»Wer sagt das?«
»Die
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