Der Tote am Lido
seine Stimme und sein Geruch in ihrer Erinnerung wurden, desto peinigender war der Schmerz. Sie hatte ihn immer noch nicht verloren, sie verlor ihn immer weiter. Während Marcos Mörder frei und unbeschwert herumliefen und weiterhin als Polizisten, als dein Freund und Helfer, Dienst taten. Dieser kleine, kümmerliche Alte, dessen Leben keinen Sinn mehr hatte, der nur auf den Tod wartete, darauf hoffend, dass er kurz und schmerzlos sein würde, hätte Marco ein bisschen Würde zurückgeben können.
Sie roch wieder die Nudelsuppe und den überzuckerten Apfelbrei. Sie ekelte sich. Bei so jemandem biederst du dich an, dachte sie.
Sie wischte sich die Augen trocken, drehte sich um und sagte: »Ich muss los.«
Da sah sie, dass er blass geworden war und zitterte. Er hatte die Zeitung durchgeblättert. Es gab keinen Artikel über Marco Clerici, und er hatte es gemerkt.
»Ich möchte, dass Sabrina mir wieder das Essen bringt«, sagte er.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie gar kein Essen auf Rädern mehr bekommen. Sie sind nicht hilfsbedürftig. Sie können selber kochen, und wenn Sie dazu zu faul sind, dann gehen Sie eben zum Chinesen. Oder ist das der Lohn dafür, dass Sie helfen, die Wahrheit zu vertuschen? Einmal täglich Essen auf Rädern? Auf Staatskosten? »
»Ich werde mich über Sie beschweren. Sie perfides Luder, einen alten Mann zu täuschen«, schrie er.
»Ich habe Sie nicht getäuscht. Sie wussten vom ersten Tag an, wer ich bin.«
Der Mann schwieg und blickte auf seine gebügelten Manschetten, während sein Hund wütend kläffte und immer wieder auf Amanda zuschoss, im letzten Moment aber kehrt machte. Feige wie sein Herrchen.
»Versetzen Sie sich doch einmal in meine Lage«, sagte er.
»Das versuche ich seit vier Jahren. Was hat man Ihnen geboten?«
»Geboten?« Er schrie jetzt. Der Hund rannte im Kreis und bellte wie von Sinnen.
»Ja, womit hat man Sie bestochen?«
Er ließ sich auf den Stuhl fallen, hielt seinen Kopf mit beiden Händen fest und schüttelte ihn. Amandasah die schwere gusseiserne Pfanne und fragte sich, welches Geräusch sie auf seinem Schädel erzeugen würde.
»Raus mit der Sprache. Warum haben Sie Ihre Aussage zurückgezogen? Was hatten Sie davon?«
Der Mann bebte am ganzen Körper. Sein Kopf zuckte zwischen den verkrampften Händen. »Hör mir zu«, schluchzte er. »Bitte …«
36
Lunau parkte vor dem Haus, das genauso verlassen wirkte wie in der Nacht.
Er klingelte, hörte nichts, klingelte erneut. Jemand lugte durch den Küchenvorhang, dann wurde die Tür geöffnet.
Lunau hatte damit gerechnet, Silvias Bruder vor sich zu haben. Stattdessen war es Silvia. Sie schaute zu Boden. Lunau grüßte, und sie antwortete leise und lustlos.
Sie fragte nicht, was er wollte, sie sah ihn weder aggressiv noch zärtlich an, sie sah ihn gar nicht an. Lunau musste an Sara denken, die auf dem Sofa gewippt hatte, mit diesem ausdruckslosen Gesicht. Posttraumatische Belastungsstörung, nannte man das. Sie musste therapiert werden, behutsam und rasch, sonst setzte die Chronifizierung ein, wie die Fachleute das nannten. Allerdings wussten die Fachleute nicht genau, wie man zu therapieren hatte – indem man das Erlebte ausklammerte,oder indem man es wieder in Erinnerung rief.
»Darf ich einen Augenblick hereinkommen?«, fragte Lunau.
Silvia trat zur Seite.
»Sind die Kinder da?«
Sie nickte. »Natürlich.«
In den vertrauten Geruch des Hauses, Holz und feuchtes Gras, hatte sich auch hier eine fremde, irritierende Note gemischt. Von Apotheke und den Fluren einer Behörde.
Lunau betrat das Wohnzimmer, in dessen Mitte der Bruder stand, genau wie am Abend, als er vom Garten aus hingesehen hatte. Der Bruder trug jetzt ein Sommerhemd, und er hatte kein Glas in der Hand. Auf dem Sofa saß Sara. Sie hatte sich mit den Fingern in den Bezug verkrallt, und Lunau kam der Verdacht, dass sie auch die Nacht über hier gesessen hatte. Sie wippte immer noch mit dem Oberkörper.
»Das ist Enrico, mein Bruder«, sagte Silvia. »Und das ist Kaspar Lunau.«
Lunau nickte dem Mann zu, der jünger war als erwartet. Er wäre ausgesprochen attraktiv gewesen mit seinen dunklen Locken und der athletischen Figur, hätte er nicht ebenfalls einen verbitterten Zug um die blassen Lippen gehabt.
»Sara«, flüsterte Lunau.
Das Mädchen hielt kurz inne und schien in die Ferne zu lauschen. Lunau bildete sich einen Moment lang ein, sie hätte seine Stimme erkannt, doch als er ihr vorsichtigeine Hand auf das Haar legte,
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