Der Tote am Steinkreuz
ausstießen.
»Was ist das?« fragte sie flüsternd.
»Ich weiß es auch nicht«, gestand Dubán. »Irgend etwas ängstigt sie, vielleicht ein Tier. Ich schaue lieber mal nach.«
Er glitt vom Pferd und reichte Fidelma die Zügel. Sie sah, wie er vorsichtig in die Dunkelheit hineinging zu der Herde hin.
Es war kalt, und sie zog sich den Mantel fest um die Schultern. Dubáns Pferd schnaubte und riß am Zügel.
»Brrr!« rief sie ärgerlich. »Halt still!«
Im nächsten Moment bäumte sich ihr eigenes Pferd ohne Warnung hoch auf, Fidelma verlor den Halt, rutschte über die Kruppe ab und landete mit der Schulter zuerst auf dem Boden. Zum Glück war die Grasnarbe weich und federte den Fall ab. Einen Moment lag sie leicht benommen da, nicht verletzt, aber vom Schreck gelähmt. Dann erhob sie sich auf die Knie und rieb sich den rechten Arm, der den Aufprall am meisten gespürt hatte. Sie schämte sich, weil sie sich hatte abwerfen lassen wie ein Neuling, der noch nie auf einem Pferd gesessen hat.
»He!« rief sie, als beide Pferde im Dunkeln wegtrabten. Sie machte ein paar zögernde Schritte ihnen nach und erschauerte plötzlich. Sie hatte ein leises Rascheln im nahen Unterholz gehört. War das eben nicht ein tiefes Knurren?
Sie blieb stocksteif stehen.
Ein langer, niedriger schwarzer Schatten glitt aus dem Gebüsch und verhielt. Seine Augen funkelten im Dämmerlicht, und dann öffnete sich der Rachen und ließ die weißen Reißzähne sehen.
Der Wolf starrte sie an und knurrte drohend.
Fidelma wußte, wenn sie auch nur die geringste Bewegung machte, würde das mächtige Tier sie anspringen, ihr die scharfen Zähne in die Kehle schlagen, reißen und zerren. Sie zwang sich, nicht die Augen zu schließen, den Atem anzuhalten. Fidelma hatte schon Wölfe gesehen, war auch schon von ihnen bedroht worden, doch war sie zu Pferde immer schneller gewesen als sie oder hatte anderen Schutz besessen. Wölfe waren die häufigsten Raubtiere in den fünf Königreichen, aber meist blieben sie in den Bergen oder Wäldern und griffen nur an, wenn sie gestört wurden oder einen unglücklichen waffenlosen Wanderer antrafen. Es gab leichtere Beute als Menschen, zum Beispiel Haustiere oder Hirschrudel.
Aber hier stand sie ohne Pferd und ohne Waffen nur wenige Schritt entfernt von einem großen Wolf, der offenbar auf Beute aus war. Ihr Verstand, der trotz der Angst, die sie gepackt hatte, noch arbeitete, sagte ihr, daß es eine Wölfin war, die Nahrung für ihre Jungen suchte.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während Wolf und Mensch sich anstarrten. Fidelma spürte, wie sie zu zittern begann. Sie wußte, jede plötzliche Bewegung wäre tödlich.
Auf einmal flog etwas an ihr vorbei. Es traf offenbar den Wolf, denn der jaulte fürchterlich auf. Eine rauhe Hand packte Fidelma und riß sie beiseite. Sie nahm gerade noch wahr, daß der Wolf sich umdrehte und ins Unterholz verschwand.
Sie fuhr herum und stand Dubán gegenüber.
»Bist du unversehrt?« fragte der Krieger besorgt.
Fidelma lachte nervös.
»Anscheinend ja«, antwortete sie. Sie atmete mehrmals tief durch, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Vorsichtig rieb sie sich den Arm, an dem er sie gepackt hatte. »Du hast rauhe Hände, Krieger.«
Dubán lachte.
»Lederhandschuhe, Schwester. Die ersparen mir Schwielen. Jetzt schauen wir erst mal nach den Pferden. Der Wolf holt vielleicht das Rudel heran und sucht uns.«
»Es tut mir leid«, sagte Fidelma reumütig.
»Was denn?« fragte der Krieger.
»Daß ich in meiner Dummheit die Pferde habe laufen lassen.«
Dubán zuckte gleichmütig die Achseln.
»Selbst der beste Reiter kann nicht auf alles gefaßt sein, Schwester. Der Wolf hat die Rinder so unruhig gemacht. Er muß durch das Unterholz hinter dir her angeschlichen sein und hat die Pferde erschreckt. Ich hörte deinen Schrei und eilte zurück. Gott sei Dank lagen ein paar Steine auf dem Boden. Ich habe einen nach dem Wolf geworfen. Nur gut, daß du dich nicht bewegt hast, dann hätte er dich angefallen.« Er hielt inne. »Du hast dich beim Sturz doch nicht verletzt?«
»Nur meine Würde hat gelitten«, sagte Fidelma lächelnd. Und mein Stolz auf meine Logik, fügte sie im stillen hinzu. Wäre Dubán der gewesen, für den sie ihn hielt, dann läge sie jetzt mit vom Wolf aufgerissener Kehle da.
»Dann danke Gott, daß es nur das ist und nichts weiter«, antwortete Dubán.
Sie machten sich auf die Suche nach ihren Pferden.
»Meinst du wirklich, daß der Wolf
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