Der Tote am Steinkreuz
bewiesen werden. Er ist ein menschliches Wesen und hat vor dem Gesetz dieselben Rechte wie jeder andere. Bis dahin gibt es keine Entschuldigung dafür, ihn so zu behandeln, als wäre er weniger als ein Tier.«
»Stimmt«, gestand Eadulf. »So dürfte er nicht behandelt werden, aber …«
»Er hat das Recht, sich zu verteidigen, bevor er schuldig gesprochen wird oder nicht.«
»Taubstumm und blind, Fidelma. Wie kann man sich mit so einem Menschen verständigen, um festzustellen, was er zu seiner Verteidigung vorzubringen hat?« wollte Eadulf wissen.
»Wenn es Gründe für eine Verteidigung gibt, werde ich sie finden. Jedenfalls wird er nicht ohne einen fairen Prozeß verurteilt. Entsprechend meinem Eid als Anwältin des Rechts der fünf Königreiche werde ich dafür sorgen.«
Verlegenes Schweigen trat ein, dann fragte Eadulf: »Gibt es wirklich ein Gesetz, das die Verspottung von Behinderten unter Strafe stellt?«
»Ich erfinde keine Gesetze«, erklärte Fidelma streng, noch immer verärgert. »Hohe Geldstrafen können über jeden verhängt werden, der über die Behinderung eines Menschen spottet, von einem Epileptiker bis zu einem Lahmen.«
»Das ist kaum zu glauben, Fidelma. Wenn ich auch die Gesetze deines Landes studiert habe, bin ich doch in meiner eigenen Kultur befangen. In unserer Gesellschaft gehen wir davon aus, daß der Mensch ein grausames Wesen ist und Gott ihm oft ein kurzes und schweres Leben zugemessen hat. Es liegt in der heiligen Ordnung der Dinge, daß der Mensch in der gewaltsamen Natur auch einen Weg voller Gewalt geht.«
Fidelma starrte ihn verblüfft an.
»Du hast doch bei uns gesehen, daß es auch anders sein kann, Eadulf. Du glaubst doch sicher nicht, daß die angelsächsische Lebensweise die einzig richtige ist?«
»Jede Lebensweise ist vergänglich. Das Leben ist plötzlichen Wechseln unterworfen. Von allen Seiten ist es von Pest, Hunger, Unterdrückung und der Gewalt persönlicher oder politischer Feinde bedroht. Wir ergeben uns in unser Geschick nach dem unergründlichen Willen des Vaters im Himmel und sehen darin unsere einzige Sicherheit.«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Über diese Philosophie müssen wir später noch einmal reden, Eadulf. Unsere Gesetze und unsere Lebensweise sprechen gegen das viele Elend, das ihr in eurem Land hinnehmt. Aber bevor wir darüber debattieren, haben wir erst einmal diesen Fall zu lösen. Es ist ein schwieriger Fall, Eadulf, und ich brauche deine Hilfe dabei. Wenn ich das Beweismaterial gesammelt habe und die Schuld diesem Unglücklichen anzulasten ist, dann muß ich entscheiden, ob er rechtsfähig ist. Ein Behinderter kann nicht rechtlich belangt werden, sondern das Verfahren richtet sich gegen seinen gesetzlichen Vormund. Also müssen wir feststellen, wer der gesetzliche Vormund dieses armen Móen ist. Ach«, sie hielt inne und rieb sich die Stirn, »ich muß versuchen, mich an den Wortlaut des Do Brethaib Gaire zu erinnern …«
»Was ist denn das?« erkundigte sich Eadulf.
»Das Do Brethaib Gaire legt die Verpflichtungen der Verwandtschaft bei der Sorge für ihre behinderten Angehörigen fest. Der erste Teil bezieht sich auf die Taubstummen und Blinden.«
Eadulf wunderte sich immer wieder über die irischen Entschädigungsgesetze für das Opfer und seine Angehörigen selbst in Mordfällen. In seinem Land galt die Todesstrafe für Diebe und für diejenigen, die ihnen Unterschlupf gewährten oder sie unterstützten. Mörder, Verräter, Hexen, entlaufene Sklaven, Geächtete und die, die sie beschützten, konnten gehängt, geköpft, gesteinigt, verbrannt oder ertränkt werden. Verstümmelungen galten als geringere Strafen: das Abschneiden von Händen, Füßen, Nasen, Ohren, Oberlippen oder Zungen, Blendung, Kastration, Skalpieren, Brandmarken oder Auspeitschen. Eadulf wußte, daß die angelsächsischen Bischöfe lieber mit Verstümmelung bestraften als mit dem Tode, weil das dem Sünder Gelegenheit gab zu bereuen. Aber diese Iren, die sich weigerten, einen befriedigenden Begriff von Rache zu entwickeln, und dafür von Schadensersatz für das Opfer durch nützliche Arbeit des Verbrechers redeten … Nun ja, es war human, aber er fragte sich oft, ob solche Strafen angemessen seien.
Als sie an der Festhalle vorbeikamen, rief jemand nach ihnen.
Es war Dubán, der ihnen nacheilte. In seinem Blick lag etwas Feindseliges, doch seine Miene war beherrscht.
»Ich habe Crítán befohlen, deine Anweisungen auszuführen, Schwester. Móen wird
Weitere Kostenlose Bücher