Der Tote am Steinkreuz
wir von Archú und Agdae. Versuchen wir, Ungerechtigkeit gegenüber den Lebenden zu verhindern«, erwiderte Fidelma.
»Ist die Abneigung gegen den Vater auf den Sohn übertragen worden?« fragte Eadulf. »Soll Archú dafür büßen, daß Muadnat seinen Vater nicht mochte? Das wäre in höchstem Maße ungerecht.«
»Das ist sicher sehr ungerecht, aber noch kein Grund für Archú, Muadnat umzubringen«, erwiderte der Landarbeiter.
»Bist du sicher, daß er das getan hat?«
»Agdae hat es doch gesagt.«
»Muß Agdaes Behauptung deshalb wahr sein? Du hast uns gerade erzählt, daß Agdae genausoviel Grund hat, Archú zu hassen, wie Muadnat, wenn nicht mehr.«
»Agdae ist schließlich auch Muadnats Adoptivsohn, nicht nur sein Neffe. Sollte er nicht die Wahrheit kennen?«
»Sein Adoptivsohn?« Das interessierte Fidelma. »Also hat Muadnat keine Frau und keine eigenen Kinder?«
»Nein, nicht, daß ich wüßte. Agdae war sein Neffe, doch Muadnat hat ihn von Kind an aufgezogen.«
»Agdae wird also Muadnats Hof erben?«
»Das nehme ich an.«
Fidelma ging zu ihrem Pferd.
»Du kannst die Leiche zu Muadnats Hof bringen«, sagte sie. »Ich bin hier fertig. Wenn du Agdae eher siehst als ich, dann warne ihn vor jeder Handlung, mit der er sich den Zorn des Gesetzes zuziehen würde. Ihr wißt beide, was ich damit meine.« Sie schwang sich aufs Pferd. Eadulf tat es ihr gleich.
»Wohin jetzt?« fragte er, als sie bereits den Berghang hinunterritten.
»Zu Archús Hof natürlich.«
»Meinst du, daß dieser Mord mit dem an Eber und Teafa in Verbindung steht?«
»Es ist zumindest merkwürdig, daß sich in diesem schönen Tal von Araglin, in dem jahrelang niemand gewaltsam zu Tode kam, innerhalb weniger Tage mehrere solcher Gewalttaten ereignen. Bisher sichere und wohlbehütete Bauernhöfe werden überfallen. Vieh wird weggetrieben, seltsamerweise aber jedesmal nur ein paar Rinder. Die Morde an Eber, Teafa, Muadnat und einem fremden Mann, den wir nicht kennen, können doch nicht alle nur zufällig geschehen sein. Ich muß gestehen, Eadulf, ich glaube nicht sehr an Zufälle. Ich ziehe es vor, die Tatsachen zu prüfen, und nur wenn es sich ohne jeden Schatten eines Zweifels erweist, daß es Zufälle waren, will ich das glauben.«
Sie schwieg und setzte ihr Pferd in einen leichten Galopp.
»Wir müssen schnell zu Archú, falls Agdae tatsächlich Rache an ihm nehmen will.«
Eadulf hatte Mühe, mit Fidelma mitzuhalten, denn sie war eine ausgezeichnete Reiterin. Sie besaß auch ein gutes Ortsgedächtnis und fand sofort den Weg am Fluß entlang, an der Hütte der Prostituierten Clídna vorbei und den gewundenen Pfad hinauf in die Berge und in das ungewöhnliche, L-förmige Tal des Schwarzen Moors, das Muadnat so lange beherrscht hatte.
Fidelma hatte schon in frühester Kindheit reiten gelernt. Saß sie im Sattel, verschmolz das Pferd gleichsam mit ihrem eigenen Körper und Willen und gehorchte ihr auf den leisesten Druck wie durch Gedankenübertragung. Sie liebte die dadurch gewonnene Freiheit. Wenn sie sich leicht im Sattel vorbeugte und den Wind im Haar spürte und wenn das Land an ihr vorüberflog, dann erbebte sie vor Freude. Der Trommelschlag der Hufe fand ein Echo im Rhythmus ihres Körpers und regte sie zu ungehinderter Meditation an.
Für eine Weile schien sie der Welt kleinlicher menschlicher Rachsucht entrückt, wurde eins mit der Natur, atmete die warme Frühlingsluft, genoß den Geruch der Wälder und Felder, empfand die sanfte Wärme der Sonne. Fast schloß sie die Augen vor schierer Sinnenfreude.
Dann riß sie sich zusammen und fühlte sich beinahe schuldig.
Menschen waren getötet worden, und sie hatte die Pflicht, festzustellen, warum und von wem.
Ihre Augen öffneten sich weit. Sie erblickte zwei Reiter auf dem Weg vor ihr und erkannte sogleich Dubán und einen seiner Männer.
Sie parierte ihr Pferd und ließ sie herankommen. Eadulf hielt neben ihr.
»Ich habe es bereits gehört, Schwester«, erklärte ihr Dubán, noch bevor sie etwas sagen konnte. »Crón sandte mir die Nachricht. Ich habe zwei meiner Leute bei Archú und Scoth stationiert. Sie wollen ihren Hof nicht verlassen, sind aber in sicheren Händen.«
»Agdae hast du also nicht gesehen? Ich hörte, er sei diesen Weg geritten.«
Dubán schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, daß er versuchen wird, Archú etwas anzutun, wenn er weiß, daß meine Männer bei ihm sind. Seine Wut wird sich schon wieder legen. Er wird zur Vernunft kommen und
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