Der Tote im Eiskeller
die Nacht, auch das Tuch über seinen Augen war schwarz. Nein, es war viel schlimmer.»
Der Mann im Fleet hatte zunächst nicht begriffen, wo er sich befand. Da war eine wattige Leere in seinem Kopf, was weniger am Schrecken als an der Menge Bieres lag, die er sich an diesem Abend zur Entschädigung für seinen schweren Dienst gegönnt hatte. Als er spürte, dass er allein war, und hörte, wie rasche Schritte sich leise entfernten, als alles Zerren an den Fesseln nichts nützte und der Knebel fest saß wie ein Pfropf im Flaschenhals, hatte er Gott gedankt, dass er lebte, und auf den Morgen gehofft. Erwusste, er war nicht weit entfernt von der Straße. Sie hatten ihn ja nur wenige Schritte fortgeschleppt. Was er noch nicht wusste, war, dass er in einem Fleet stand und die Flut an diesem Morgen besonders hoch auflaufen sollte. Als bei Sonnenaufgang einer der Lehrjungen des Schreiners kam, um einen Eimer Wasser zu schöpfen, und den Mann entdeckte, stand dem das Wasser schon bis zum Kinn.
«Nur eine Viertelstunde später», schloss Jean, «und der arme Mensch wäre ertrunken wie ein Wurf Katzenjunge im Sack. Titus mag darauf beharren, dass es bei den Überfällen dieser Bande keine Toten gegeben hat. Aber dieser Mann wurde nur rechtzeitig entdeckt. Es war Zufall und Glück. Eigentlich war er so gut wie tot. Oder etwa nicht?»
«Unbedingt», stimmte Gesine zu. «Und Jakobsen meint, es seien immer dieselben Männer, die diese Überfälle machen? Eine Bande?»
«Mehr als zwei sind eine Bande, und niemand kann daran zweifeln, dass es immer dieselben sind. Jedes Mal wurde das Opfer nicht nur beraubt und an einen ungewöhnlichen Ort verschleppt, sondern auch auf besondere Weise gequält. Diesem wurden die Haare geschoren, den davor – das war ein fabelhafter Skandal, zu schade, dass wir da noch nicht in der Stadt waren, wir sollten das unbedingt in eines unserer Lustspiele einbauen –, den davor also haben sie in die St.-Petri-Kirche gelegt, direkt vor den Altar …»
«Da hatte er es wenigstens trocken», sagte Rosina. «Haben sie ihn auch zum Kahlkopf gemacht?»
«Nein.» Jean grinste breit. «Ihm haben sie Schweinsohren über die eigenen gehängt und die Hosen ausgezogen. Als die Gemeinde zum Frühgottesdienst kam und ihn fand, lag er schnarchend vor dem Altar, nur mit Hemd,Rock und Strümpfen bekleidet. Was natürlich ein Sakrileg ist und von wirklich gottloser Gesinnung zeugt, aber Jakobsen sagt, dass die Frühgottesdienste seither viel besser besucht sind.»
«Eines ist allerdings kurios», nun war wieder Titus dran, «den Mann in der Kirche haben sie nur um seine Münzen erleichtert. Seine Uhr, seine beiden Ringe, auch die Silberknöpfe auf seinem Rock – war alles noch da.»
«Sicher sind sie von den Nachtwächtern gestört worden», überlegte Rosina.
«In der Kirche? Spätestens dort hätten sie ihn in aller Ruhe bis aufs Hemd ausplündern können. Ich frage mich, wie sie überhaupt in die Kirche gekommen sind. Sind die Türen nachts nicht versperrt?»
«Offenbar nicht», murmelte Jean und ließ seinen Kopf auf die weiche Schulter seiner Frau sinken. Die anregende Wirkung des Weins wich plötzlicher, bleierner Müdigkeit. Er wäre gleich eingeschlafen, hätte ihn nicht diese leise Unruhe gestört. Da war etwas, das er unbedingt erzählen musste. Heute noch. Etwas, das er schon seit Tagen vor sich her schob. Als sie den
Bremer Schlüssel
verließen, hatte er noch daran gedacht. An was nur?
«Wer waren die Männer, Titus?», hörte er Helena fragen. «Kennen wir sie?»
Titus schüttelte den Kopf. «Wie sie heißen, weiß ich nicht, aber beide sind wohlangesehene Männer. Jedenfalls nicht arm. Den Verlust von ein paar Silberknöpfen werden sie leicht verschmerzen. Der im Fleet war eigentlich niemand Besonderer, er ist Oberaufseher im Spinnhaus, aber Jakobsen glaubt, ganz arm sei er auch nicht.»
«Da mag es mal den Richtigen getroffen haben.» Rosina steckte energisch den Stopfen in das Tintenglas. Niemand widersprach. Nicht einmal Gesine. Im Spinnhaus, dem Gefängnisund Arbeitshaus vor allem für Frauen und junge Diebe, herrschten ganz gewiss keine milderen Sitten als im benachbarten Werk- und Zuchthaus.
Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Doch der Abend war milde, niemand hatte es eilig, ins Haus zu gehen. Dort war es längst dunkel, nur aus dem Küchenfenster schimmerte warm eine Rüböllampe; das Klappern von Tellern und Töpfen verriet, dass die Krögerin sich mit ihrem Mädchen
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