Der Tote im Eiskeller
und ihn endlich eingeholt hatte. «Wirklich nicht.»
Sie nickte, beschleunigte plötzlich ihre Schritte, und er beeilte sich, ihr zu folgen. Was nicht einfach war, immer wieder bremsten Pfützen und schlammige Löcher den Karren.
Sie durchquerten die Neustadt und passierten den weiten Platz vor dem Millerntor. Benni wäre gerne dem verführerische Duft von Zimtkringeln gefolgt, um sich bei der Bude am Tor einen zu kaufen, doch sie eilte schon weiter, vorbei an der Bastion Henricus und auf dem Weg zwischen dem ansteigenden Wall und den Soldatenhütten zur nächsten, der Bastion Eberhardus. Endlich blieb sie stehen und wartete, bis er neben ihr war.
«Hoffentlich brennt die Lampe noch», sagte sie missmutig. «Wie sollen wir in der Dunkelheit dort unten sonst etwas sehen?»
Die Lampe stand, durch einen feuchten Lumpen und Wachspapier gegen das Stroh geschützt, im Karren. Sie brannte noch, was bei der Wackelei auf dem holperigen Straßen einem kleinen Wunder glich. Wie töricht, eine glimmende Lampe durch die halbe Stadt zu fahren. Vieleinfacher wäre es gewesen, in einem der Wachhäuser nahe dem Eingang zum Eiskeller um Feuer zu bitten. Das hatte Thea nicht gewollt. Wenn sie schon diesen Botendienst tun müsse, wolle sie sich nicht auch noch der Begegnung mit den ungehobelten Rotröcken aussetzen. Benni fand Thea eine sehr seltsame Person.
Die Hamburger Wälle waren vor anderthalb Jahrhunderten gebaut worden und galten immer noch als ein unübertroffenes Meisterwerk des Festungsbaus. Sie hatten die Stadt vor den Söldnerheeren des dreißig Jahre währenden Krieges beschützt, ohne dass von ihnen ein Schuss abgefeuert werden musste – die Uneinnehmbarkeit der Festung hatte sich im ganzen Reich herumgesprochen. Später, als der dänische König das wohlhabende Hamburg in sein Reich einverleiben wollte, musste doch noch geschossen werden. So waren die teuren Kanonen und das nicht minder teure Militär wenigstens nicht nutzlos bezahlt worden, von dem Bau der Festung ganz zu schweigen. Auch der letzte Krieg, der immerhin sieben Jahre gedauert und die Welt bis ins ferne Amerika und Ostindien durcheinander gewirbelt hatte, hatte die Stadt militärisch nicht berührt. Inzwischen waren etliche der Kanonen und Mörser, die einst in großer Zahl auf den Bastionen gestanden hatten, verkauft oder eingeschmolzen, auch von den verbliebenen waren nicht mehr alle funktionstüchtig. Obwohl die Bürger sich trotzdem im Schutz ihrer Wälle sicher fühlten, mehrten sich die Stimmen, die sie als Ärgernis bezeichneten. Der Festungsring behinderte die Ausdehnung der zu eng gewordenen Stadt, und die von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang verschlossenen Tore beeinträchtigten den Handel erheblich. Auch schien eine solche Befestigung inzwischen überflüssig, umso mehr, als sie der rasch fortschreitenden militärischen Technik nicht mehr entsprach.
Wo weniger Kanonen und Mörser bestückt werden mussten, weniger Soldaten im Dienst standen, wurden auch weniger Munitionslager gebraucht. So war der zwischen den Bastionen Eberhardus und Joachimus tief im Wall liegende Keller an wohlhabende Bürger vermietet, deren Häuser zu nah am Wasser standen, um über eigene trockene Keller zu verfügen
.
Weil der dunkle Raum unter dem Wall besonders kalt und fest abgeschlossen war, wurde er als Eiskeller genutzt. In jedem Winter hieben und sägten Männer aus den Flüssen und Seen große Eisblöcke, die sich in tief liegenden Räumen unter dicken Lagen aus Stroh gegenseitig genug kühlten, um bis in den späten Sommer gefroren zu bleiben. Das Eis war zum Geschäft geworden, es hielt nicht nur Fleisch, Austern und anderes Meeresgetier frisch, ‹Gefrorenes› gehörte in allen Häusern, die sich eine solche Delikatesse leisten konnten, zu den Lieblingsdesserts.
Der Keller war nur von einem durch den Wall auf die Brustwehr hinausführenden Gang zu erreichen. An dem knapp mannshohen ummauerten Eingang sah Thea sich suchend um. Dort halte ein Soldat Wache, hatte Madame Herrmanns erklärt und ihr das gesiegelte Papier gegeben, das allen, die sich damit als Mieter auswiesen, den Zugang erlaubte. An diesem Morgen hielt hier niemand Wache. Auch bei der nahen Baracke war kein Soldat zu sehen, nur durch das Gebüsch oberhalb des Weges schimmerten rote Röcke. Sie hörten Axtschläge, den ungeschützten Ulmen auf den Wällen hatte der Sturm schwer zugesetzt.
«Worauf wartest du, Junge?» Sie nahm die Lampe von der Karre und drehte den Docht hoch. «Geh voraus,
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