Der Tote im Eiskeller
zum Abendbrot niederließ.
Rosina hatte Hunger, aber sie musste noch warten. Für die Mieter war die Küche erst frei, wenn sie von der Wirtin nicht mehr gebraucht wurde.
«Zum Glück», brummte Titus in das friedliche Schweigen, «sind die Überfälle geschehen, als wir noch nicht in der Stadt waren. Ratet, wem sie die sonst in die Schuhe geschoben hätten.»
«Unsinn», murmelte Jean, schon halb im Schlaf, «die Zeiten ändern sich, und der Weddemeister kennt uns. Wagner würde so etwas nie denken.»
«Nein, der sicher nicht», sagte Rosina. «Aber Wagner ist nicht die Stadt. Sieh dich doch mal um. Als wir ankamen, hing überall die Wäsche vor den Fenstern. Und jetzt? Kein noch so winziges Taschentuch ist mehr zu sehen. Und der Korbmacher geht mit seinen Söhnen über den Hof, als schleiche er durch Feindesland. Gestern hat er den Älteren erwischt, wie er mit Fritz sprach, du hättest sein Gesicht sehen sollen. Er hat gepfiffen, und der Junge ist blitzschnell in die Werkstatt gerannt.»
«Kleingeister», nuschelte Jean. Er rappelte sich auf und reckte gähnend die Schultern. «Wenn wir erst die Lat …»
Da war es. Nun fiel ihm wieder ein, was er zu erzählen ‹vergessen› hatte.
«Wenn wir erst was?» Helena sah ihn alarmiert an. Gewöhnlichredete Jean zu viel, wenn er einen Satz nicht zu Ende sprach, war Vorsicht geboten.
«Nichts Bedeutendes, mein Engel. Da ist nur etwas, das mir beinahe entfallen wäre. Ja, entfallen. Beinahe. Ein Prinzipal hat so viel zu bedenken, da kommt es schon mal vor, dass …»
Auch dieser Satz blieb unbeendet. Ein heftiges Pochen an der Pforte rettete Jean vor der verspäteten Erklärung, er unterdrückte einen erleichterten Schnaufer. Es würde viel einfacher sein, die Neuigkeit später zu erzählen, wenn alle über ihren dampfenden Tellern saßen, Wohlbehagen im Bauch und in der Seele.
Er irrte sich. Dann würde es zu spät sein.
Das Tor wurde aufgestoßen, und ein dünner Knirps mit braunen Zähnen zog einen mit einer Holzkiste und einem Reisekorb beladenen Karren herein. Eine junge Frau im zerknitterten nachtblauen Kleid folgte ihm in den Hof und blinzelte suchend durch die Dämmerung.
«Seid Ihr das, Madame und Monsieur Becker?», fragte sie mit dünner Stimme. «Ich weiß, Ihr erwartet mich frühestens morgen. Ich habe eine schnellere Kutsche bekommen. Hoffentlich es ist Euch recht.»
Jean hörte Helena scharf den Atem einziehen und schloss matt die Augen.
Der September entschädigte die Menschen im Norden mit langen Sonnentagen für den regenreichen Sommer. Als er zu Ende ging, waren die gebrochenen Deiche wieder geschlossen und wurden nur noch weiter befestigt und verstärkt. Die Winterstürme brauchte niemand zu fürchten.
Auch der letzte Mittwoch im September begann sonnig und mit dieser frühherbstlichen Milde und Diesigkeit, die poetische Seelen zu elegischen, gleichwohl hoffnungsvollenVersen inspiriert. In den Gärten glitzerte der Tau, das puderige Blau und tiefe Violett der Astern leuchtete intensiver, die späten Rosen dufteten süßer als an anderen Tagen. Selbst wer mit trüben Gedanken erwacht war, wurde von der Heiterkeit des Morgens angesteckt. Doch bald nach Mittag trübte sich der Himmel, gelblich graue Wolken zogen auf und schoben stickige Luft in die Stadt, kleine Tiere suchten sich einen Unterschlupf, und selbst sonst friedliche Kettenhunde knurrten schon, wenn sie nur von ferne fremde Schritte spürten.
Am Abend leerten sich die Straßen schneller als gewöhnlich. Alle Hände wurden gebraucht, um Türen und Fenster zu sichern, Dächer von Schuppen und Lagern zu prüfen, um Segel noch fester zu reffen und kleine Boote höher auf die schützenden Ufer zu ziehen. Sogar die Gasthäuser am Hafen und die Branntweinkeller in den Gängevierteln blieben spärlich besucht.
Die Mühe schien umsonst gewesen. Als die letzten Lichter in der Stadt gelöscht wurden, lösten sich die bedrohlichen Wolken auf, die Nacht versprach ruhig, der kommende Tag wieder schön zu werden. Doch der Himmel war tückischer Laune. Als die ersten Lehrjungen aus ihren Betten krochen, um die Feuer in den Backstuben zu schüren, beschloss er, dem Menschengewürm eine Überraschung zu bereiten. Wie aus dem Nichts tobte ein kalter Sturm heran, wühlte die Elbe zu einem brodelnden Schlund auf, brauste über die Wälle und fegte durch die Stadt, drückte hier Fenster und Türen auf, hob dort Ziegeln von den Dächern, griff nach Kisten und Tonnen, ließ die Schiffe an
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