Der Tote im Eiskeller
selbst einer jungen Dame wie Mademoiselle Fenna gut. Es macht sie im Handumdrehen wieder munter.»
Bei anderen Gelegenheiten hätte Anne Herrmanns überdiese Bemerkung gelacht. Sie war eine schlanke Frau um die vierzig. Ihr etwas zu großer Mund, ihre etwas zu spitze, leicht himmelwärts weisende Nase, ihre wachen Augen in dem vom ausgiebigen Aufenthalt in ihrem Garten vor dem Dammtor leicht gebräunten Gesicht, nicht zuletzt ihr lebendiges Temperament ließen sie jünger erscheinen. Besonders wenn sie, wie jetzt, im modischen, mit Streublumen bestickten Negligé und mit nur nachlässig aufgestecktem Haar am Tisch saß und nachdachte.
Augusta Kjellerup war die Tante ihres Ehemannes. Sie hatte Anne gleich, als sie einander kennen lernten, in ihr Herz geschlossen und war nicht ganz unschuldig an dieser zweiten Ehe ihres Neffen. Augusta hatte den weitaus größten Teil ihres Leben als höchst ehrbare Gattin eines Kopenhagener Kaufmanns verbracht und war vor einigen Jahren in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um im Haus ihres verwitweten Neffen zu leben. Zum allgemeinen Erstaunen der feinen Hamburger Gesellschaft hatte Augusta sich während all der Jahrzehnte in der dänischen Hauptstadt, die für die Strenge ihrer Sitten bekannt war, ein paar Vorlieben bewahrt, die nur weitaus jüngeren Frauen anstanden. Neben einer Schwäche für glitzernde Bänder an ihrer Witwentracht und teure Schuhe aus Brokat und Seide gehörte dazu auch das Experimentieren mit der Herstellung von Likören und anderen hochprozentigen ‹Bekömmlichkeiten›. Dass sie dabei nur geringe Erfolge aufweisen konnte, störte sie wenig. Tatsächlich war ihr Rosmarinbranntwein das einzige genießbare Ergebnis ihrer Versuche. Davon verwahrte sie immer eine Karaffe in ihrem Salon, griffbereit bei vergnüglichen wie traurigen Anlässen.
«Nichts gegen deine Wunderwaffe, Augusta.» Anne Herrmanns versuchte, diplomatisch zu sein, obwohl solche Rücksicht bei Augusta überflüssig war. «Dein Branntweinist delikat, nur als Aroma für unser Eis vielleicht nicht ganz geeignet. Ich fürchte, Fenna ist den Geschmack nicht gewöhnt. Die Idee ist trotzdem gut. Wir können es mit Pfefferminzlikör versuchen. Den mag Fenna.»
Sie lehnte sich zurück und sah zum Fenster hinaus. Der Himmel über der Elbe leuchtete in tiefem Blau, eine Möwe segelte im Aufwind vorbei, und durch das weit geöffnete Fenster drangen die Geräusche vom nahen Hafen herein. Geräusche, die stets ihre Sehnsucht weckten. Was für eine Verschwendung, diesen schönen Morgen im Haus zu verbringen. Viel lieber wäre sie in ihrem neuen Kabriolett mit Elsbeth, Köchin und wahre Regentin des Herrmanns’schen Haushaltes, in den Garten vor dem Dammtor hinausgefahren. Nichts schien ihr in diesem Moment wichtiger, als zu prüfen, welche Schäden das Unwetter der vergangenen Nacht dort angerichtet hatte. Elsbeth hatte allein gehen müssen und würde sich nur um den Küchengarten und die Obstbäume kümmern, für die Blumenbeete und die Orangerie würde sie nur einen flüchtigen Blick erübrigen. Der Garten musste fürchterlich aussehen. Durch seine Lage direkt an der äußeren Alster litt er trotz der Hecken und Bäume schon unter weniger heftigen Stürmen als dem der vergangenen Nacht. Zumindest die Glashäuser schienen das Unwetter heil überstanden zu haben, sonst hätte der Gärtner längst Nachricht geschickt.
Der Garten musste bis morgen warten. Anne Herrmanns war keine talentierte, geschweige denn begeisterte Hausfrau, das wusste jeder. Da Elsbeth eine umso bessere war, störte das niemanden, nicht einmal Claes Herrmanns als den Herrn des Hauses. Trotzdem versuchte sie ihr Bestes, um es deutlicher zu sagen: versuchte sie, den Schein zu wahren. Wenn also wie an diesem Tag ein großes Diner vorbereitet werden musste, war eben keine Zeit für ihre Liebhaberei.
«Also gut, Pfefferminzlikör», unterbrach Augusta ihre Gedanken. Sie mochte die Frau ihres Neffen umso mehr, als sie in ihr eine verwandte Seele gefunden hatte. Vielleicht war sie die Einzige im ganzen Haus, die verstand, wie viel Mühe es Anne oft kostete, ihre Rolle als Gattin eines hanseatischen Kaufmanns so auszufüllen, wie es erwartet wurde. Von ihrer ziemlich plötzlichen Reise im vergangenen Jahr und ihrer Freundschaft zu einer Wanderkomödiantin einmal abgesehen, gelang es ihr ganz gut. Jedenfalls meistens.
Augusta griff nach der Kaffeekanne, fühlte bedauernd, dass sie leer war, und stellte sie auf eine mit roten Lilien bemalte
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