Der Tote im Eiskeller
konnte es nicht genau erkennen, doch es sah aus, als prüfe einer der beiden, ob die Tür versperrt sei. Dann gingen sie weiter.
‹Die Nachtwache›, dachte sie und lehnte sich aufatmend zurück. Natürlich waren diese Männer Nachtwächter, die patrouillierten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang ständig durch die Straßen. Ihr Ausrufen der Zeit oder der durchdringende Klang ihrer Schnarren, wenn sie einem Übeltäter auf der Spur waren, hatten sie oft genug geweckt. Jetzt, da sie diese Geräusche als beruhigend empfunden hätte, hörte sie nichts, und die nächtliche Stille erschien ihr plötzlich bedrohlich. Sie überlegte, das Fenster einen Spaltbreit zu öffnen, um wenigstens das Schmatzen des Wassers in den Fleeten zu hören, vielleicht den heiseren Ruf der Schleiereule, die sich im vergangenen Jahr im Katharinen-Kirchturm eingenistet hatte und ihre nächtliche Jagd hin und wieder auf die Wandrahminsel ausdehnte. Sie öffnete das Fenster nicht. Die Nächte waren schon kalt, vor allem aber wollte sie nicht erlauben, dass die Überfälle dervergangenen Wochen und Viktors Tod sie an der Geborgenheit ihres Lebens zweifeln ließen.
Viktors Tod. Das klang nicht ganz so erschreckend wie ‹der Mord an Viktor›. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie wirklich begriff, dass sein Erfrieren in dem eisigen Keller kein Unglück gewesen sein konnte. Jemand hatte den Balken vor die Tür gelegt und ihm den Weg hinaus versperrt. So etwas war kein Unglück.
Fröstelnd zog sie die nackten Füße unter ihr Nachtkleid, und weil sie zu träge war, aufzustehen und nach dem Wolltuch zu suchen, legte sie sich die bis auf den Boden reichende Gardine aus schwerem Samt um die Schultern.
Der Mond war fast voll. Sie konnte ihn nicht sehen, doch wenn die dicken, rasch ziehenden Wolken ihn freigaben, warf sein Licht scharfe Schatten und beleuchtete die Stadt besser als die trüben Laternen an den Straßenecken und bei den Brücken, die in hellen Nächten gar nicht erst angezündet wurden. Sicher krochen Diebe und Räuber lieber in den düsteren Nächten aus ihren Löchern. Und bei Unwettern? Blieben sie dann zu Hause? Oder nutzten sie gerade die Stunden der himmlischen Gefahren, in denen sich selbst Soldaten und Nachtwächter kaum aus ihren Wachhäusern wagten?
Zum ersten Mal empfand Anne es als seltsam, dass sie, die während der vielen Jahre bis zu ihrer späten Heirat die heimliche Herrin des Handelshauses ihres Bruders auf der Insel Jersey gewesen war, viel vom Handel verstand, sich in Literatur und Theater fast so gut auskannte wie in der Gartenkunst, sogar wusste, wie ein Blitzableiter funktionierte, und (dank ihres Stiefsohnes) einen Mistkäfer von einem Mondhornkäfer unterscheiden konnte, dass sie jedoch nicht wusste, was in den Nächten auf den Straßen der Stadt geschah, in der sie schon ein halbes Jahrzehnt lebte.
Warum nur war Viktor während eines solchen Unwetters ausgerechnet in diesen Keller gegangen? Die Malthus’ teilten ihn sich mit den Herrmanns’ für ihre Eisvorräte, trotzdem war er kaum in die kalte Finsternis hinabgestiegen, um Eis zu holen. Für solche Gänge hätte er einen Dienstboten geschickt, auch das gewiss nicht mitten in der Nacht und erst recht nicht an diesem Abend, an dem alles getan werden musste, Haus, Hof und weiteres Eigentum vor dem erwarteten Unwetter zu sichern. Zudem waren bei den Malthus’ jetzt im September ganz gewiss alle Hände gebraucht worden, um in den Gärten noch so viel als möglich an Samen zu sammeln, der kostbaren Grundlage für die Anzucht neuer Pflanzen.
Andererseits war Viktor gewohnt, zu befehlen und sich über die hanseatischen Gepflogenheiten hinaus bedienen zu lassen. Während seiner Jahre in Wien hatte er die Sitten des Adels kennen gelernt und auch einige von dessen Allüren angenommen. Das hatte sie schnell gemerkt, und obwohl sie es nicht gerne zugab, hatte es ihr gefallen. Diese weltstädtische Nonchalance, sein Selbstbewusstsein, seine leichte Art, über Malerei und Musik zu plaudern, das warme Interesse in seinen Augen und, ja, auch die Eleganz seiner Uniform.
Sie hatte gleich verstanden, warum Fenna sich in ihn verliebt hatte. Sie hatte alles getan, um Claes von dieser Verbindung zu überzeugen und auch Fennas und Viktors Wunsch nach einer raschen Heirat zu unterstützen. Eine Brautzeit von nur wenigen Monaten entsprach nicht den alten Sitten, gleichwohl war das in diesen aufgeklärten Zeiten keinesfalls ein Skandal oder Grund zu trübem Klatsch.
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