Der Tote im Eiskeller
Schließlich, so hatte sie nachdrücklich betont, schreibe man das Jahr 1771. Zuletzt hatte sie ihren Mann daran erinnert, was Monsieur Lehnert am Abend vor seiner Abreisegesagt hatte, nachdem Fenna schon in ihr Zimmer hinaufgegangen war: Er liebe seine Tochter sehr, der Gedanke, sein einziges Kind nicht mehr jeden Tag um sich zu haben, schmerze ihn nicht nur für die Zeit der langen Reise, sondern auch für die Zukunft. Dennoch, das Mädchen sei längst eine junge Frau im passenden Alter, wenn sich also ein geeigneter Bewerber um ihre Hand finde, solle Claes nicht zögern, stellvertretend für ihn seine Zustimmung zu geben. Nach gründlicher Prüfung von Charakter und häuslichen Verhältnissen, das sei nicht extra zu betonen. Er hatte eine Mappe mit Dokumenten auf den Tisch gelegt, die Auskunft über die Lehnert’sche Familie, seine Vermögensverhältnisse und einige als unerlässlich angesehene Punkte für den Ehevertrag enthielt. Dazu gehörte auch die Mitgift, die er für Fenna vorgesehen hatte.
Als Claes die Mappe ein gutes halbes Jahr später öffnete und die Dokumente las, weil sie womöglich bald gebraucht wurden, hatte Anne ihn leise durch die Zähne pfeifen hören. Es sei ein Jammer, hatte er erklärt, Christian lasse sich hier eine fabelhafte Gelegenheit entgehen. Fenna sei nicht nur reizend, sondern auch eine ausnehmend gute Partie, genau, was er sich für seinen ältesten Sohn wünsche. Die Höhe der Mitgift, zu der auch Anteile an zwei englischen Kohlengruben und einem vielversprechenden Kanalprojekt gehörten, hatte ihn erneut zweifeln lassen, ob Viktor zuallererst Fenna liebte.
‹Er weiß doch nur, dass sie aus gutem, nicht ganz armem Haus stammt›, hatte Anne eingewandt, ‹vom tatsächlichen Vermögen ihres Vaters weiß er noch nichts, erst recht nicht von der Höhe der Mitgift.›
‹Und du, meine Liebe, weißt genau, dass das nicht stimmt. So wie ich meine Erkundigungen über Viktor Malthus eingezogen habe, hat er sich zweifellos nach FennasFamilie und deren Verhältnissen erkundigt. Sollte ich mich irren, sind meine Zweifel an seiner Vernunft und Ernsthaftigkeit doch berechtigt.›
Dem hatte sie kaum widersprechen können. In ehrlichen Momenten war sie nicht sicher, ob ihr Mut und ihre Liebe stark genug gewesen wären, ihren wohlbehüteten, allzu behaglichen Alltag aufzugeben, um diesen Monsieur Herrmanns zu heiraten und mit ihm in einer fremden Stadt, einem fremden Land zu leben, wäre er ein armer Poet gewesen. Oder ein Oberleutnant mit ungewisser Zukunft und kargem Sold.
Und nun? Natürlich hatte Viktors Tod Claes erschreckt und betrübt, doch sie glaubte auch eine Spur Erleichterung bemerkt zu haben. Die Last der Verantwortung, womöglich einer falschen Verbindung Fennas zugestimmt zu haben, war ihm genommen.
Warum hatte jemand Viktor getötet? Sie hielt nichts von der Überzeugung vieler ihrer Freunde, nach der die Opfer eines Anschlags selbst einen großen Teil der Schuld tragen, weil sie sich in Gefahr begeben hatten oder – schlimmer noch – Gesindel gut genug kannten, um zum Opfer zu werden. Aber was wusste sie wirklich von Viktor Malthus? Warum ging einer wie er mitten in der Nacht in einen abgelegenen Eiskeller? Hatte er Schutz vor dem Sturm gesucht? Dazu hätte es gereicht, sich in die Mine zu flüchten, der Gang unter dem Wall bot ausreichenden Schutz. Noch besseren Schutz boten die Constablerwache auf Eberhardus und die Soldatenhütten unterhalb der Bastion, warum war er nicht bis dort weitergelaufen? Es waren wenige Schritte. Und mit wem …
Unmutig fuhr sie mit der Hand durch die Luft, als könne sie ihre Fragen verscheuchen wie eine lästige Fliege.
Ob Fenna schlief? Hoffentlich hatte der Melissentee mitder doppelten Portion Honig seinen Dienst getan. Und Thea? Die hatte nicht ausgesehen, als ob sie die Hilfe sanfter Kräuter brauche, um in den Schlaf zu finden. Hatte ihr Schluchzer überhaupt nach Trauer oder echtem Bedauern geklungen? Oder vielmehr nach einem erstickten Lachen? Das war ein wahrhaft böser Gedanke.
Oder gab es tatsächlich zwei Menschen in ihrem Haus, die Viktors Tod nicht bedauerten, sondern heimlich als Erleichterung empfanden? Hatte sie, Anne, sich in ihm geirrt und war auf eine schöne Fassade hereingefallen? Wenn es so war, musste es auch andere Menschen in der Stadt geben, denen es ebenso erging. Menschen, die ihn viel besser gekannt hatten und sich von ihm betrogen fühlten. Oder betrogen worden waren?
Der Gedanke, sie sei so blind
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