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Der Tote im Eiskeller

Der Tote im Eiskeller

Titel: Der Tote im Eiskeller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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möglich zurückkehre. ‹Ergebenst, Magnus   V.›
    Eilige Angelegenheit. Ergebenst. Es klang, als habe er einen Kontorschreiber beauftragt.
    Wieder hatte ihr Herz geklopft. Gewiss nicht vor Freude. Aus Enttäuschung? Aus Bangigkeit? Oder vor Erleichterung?
    Briefe zu schreiben und zu bekommen, deren Ton vertrauter und inniger wurde, die den Gedanken an eine neue Zukunft mutiger werden und bis zur freudigen Hoffnung wachsen ließen, war eine Sache. Einander gegenüberzustehen, womöglich Fremdheit und nahen Abschied zu spüren, eine ganz andere.
    ‹Bürgersöhne!›, hatte Helena triumphiert. ‹Ich hab’s dir gesagt. Sie schreiben einer wie uns schöne Zeilen und säuseln süße Worte, und dann? Dann war alles hohles Geschwätz, und sie machen sich davon. Genau das hat der feine Herr getan. Glaube mir und vergiss ihn.›
    Helena war seither guter Laune. Ihre heimliche Sorge, Rosina könne die Gesellschaft verlassen, sei es der Liebeoder anderer Gründe wegen, war zu einem Nichts geschrumpft.
    Als Tag um Tag kein Brief von Magnus kam, auch bei den anderen Poststationen hatte sie längst gefragt, begann Rosina sich zu sorgen. Das war unvernünftig, Briefe gingen leicht verloren, blieben in einer Ecke vergessen liegen oder wurden im falschen Postkorb auf eine viel zu weite Reise geschickt. Aber sie kannte das Leben auf den Straßen, und die Krögerin hatte gewusst, dass er allein geritten war, ohne sich, wie es meistens geschah, Reisegefährten zu suchen, um auf den Landstraßen sicherer zu sein.
    So hatte sie sich umso mehr gesorgt. Sie hatte ihn nach einer Begegnung mit Straßenräubern blutend, gar tot im Staub liegen sehen, hatte das Donnern der Hufe seines durchgehenden Pferdes gehört, sein Stöhnen vor Schmerz wegen gebrochener Knochen. Sie hatte ihn von einem im Unwetter gespalteten Baum erschlagen gesehen, ertrinkend beim Durchqueren eines angeschwollenen Flusses mit trügerischer Furt.
    Überflüssige Sorgen. Lächerliche Sorgen. Nachdem Wagner sich mit der Erlaubnis, Mademoiselle Lehnert am nächsten Tag zu befragen – höchst behutsam, das verstehe sich von selbst   –, verabschiedet hatte, war Anne eingefallen, dass am Morgen ein Brief von Christian eingetroffen war. Ihr Stiefsohn habe auf seiner Reise nach Süden Station in Göttingen gemacht, er sei wohlauf und habe einen vergnügten Abend mit Magnus Vinstedt und dessen Freunden verbracht. Sie seien wie Vinstedt studierte Männer und trotz einer gewissen Neigung zu Schwärmerei und Sophisterei, die allen gemein sei, angenehme Gesellschaft. Vinstedt lasse grüßen, auch und besonders Mademoiselle Rosina, die Madame Herrmanns zweifellos treffen werde.
    Er lasse grüßen! Warum, zum Teufel, schrieb er nichtendlich selbst? Sorgte er sich nicht, ob sie die sichere Stadt unversehrt erreicht hatte, wenn er vergnügt in einem Göttinger Gasthaus saß und seine Abende (und die Nächte!) mit Geschwätz und Wein verplemperte? Er war ‹wohlauf›. Und fand keine Zeit für ein noch so kurzes Billett. Sie konnte ihn nicht einmal an die versprochenen Zeilen erinnern, in seinem Brief, in diesen mageren Zeilen, die er bei der Krögerin für sie hinterlassen hatte, fand sich keine Anschrift.
    Was war das überhaupt für eine eilige Angelegenheit, mit der er seine Abreise entschuldigt hatte? Und die schwärmerischen Freunde, die Christian Herrmanns mit ihm getroffen hatte – waren das wirklich Freunde? Oder tatsächlich eine Freundin? Eine Liebe aus seinen Göttinger Jahren, an die er sich plötzlich erinnert hatte und zu der er so eilig hatte zurückkehren wollen?
    Unwirsch stieß sie einen angebissenen Apfel über die Straße. Die faulige Frucht hinterließ einen braunen Fleck auf dem hellgrauen Stoff ihrer Schuhe, was ihren Zorn nicht geringer machte. Am meisten zürnte sie sich selbst. Und Helena, die – das schien nun zu deutlich – Recht behalten hatte. Es war töricht gewesen, von den warmen Lichtern hinter den abendlichen Fenstern zu träumen. Dumm und einfältig, als sei sie noch das Kind, das sich aus dem Fenster des väterlichen Hauses stahl und glaubte, in der Welt dort draußen sei immer Sommer und jeder Tag voller Abenteuer.
    Wie hatte sie zu Anne gesagt? Sie wolle künftig nur noch auf der Bühne Komödie spielen und Eskapaden wie das Umgarnen und Aushorchen der Soldaten auf den Wällen Manon überlassen? Was für ein absurder Anfall von Prüderie. Sie sah an sich hinunter, sah den schlichten Rock aus verwaschenem Blau mit schmalen weißen

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