Der Tote im Eiskeller
sein Zeichen eingeritzt. Es sind keine Buchstaben, zum Beispiel die ersten seines Namens, wie man die der Maler auf vielen Gemälden findet. Oder doch? Nein, ich glaube, es ist nur ein winziges Zeichen. Trotzdem sieht es kunstvoll aus.»
«Wahrscheinlich kann der Schnitzer nicht schreiben», schlug Rosina vor. «Wo habt Ihr es gekauft?»
«Bei einem Straßenhändler.» Wagner griff wieder nach seinem Tuch und wischte sich über die nun doch feuchte Stirn. «Ja, auf der Straße. Ich habe sicher nicht zu viel dafür bezahlt, ganz gewiss nicht.»
Wagner hasste es, zu lügen. Vor allem, weil er es, selbst bei Nebensächlichkeiten wie dieser, so schlecht konnte. Ein Blick in Rosinas Gesicht verriet ihm, dass sie ihn durchschaut hatte. Dass sie ihn nun, in Gegenwart von Madame Herrmanns, nicht nach der Wahrheit fragte, ließ ihn ihre vorherige Widerborstigkeit vergessen. Er war erleichtert. Trotz ihrer Herkunft, trotz ihrer vornehmen Freundschaften gehörte sie noch zu Leuten wie ihm, zu Leuten in ärmlichen Häusern. Leuten, die sich keinen Eiskeller leisten konnten.
Wenn sie ihn fragte, später, wenn sich die Gelegenheit ergab und niemand zuhörte, würde er antworten. Er wusste ja selbst nicht, warum er die Herkunft der kleinen Rose für sich behalten wollte.
KAPITEL 6
Am Tor zum Kröger’schen Hof zögerte Rosina. Als sie am Morgen erwacht war, hatte sie sich fest vorgenommen, an diesem Tag nicht zur Poststation zu gehen. Morgen, hatte sie beschlossen, morgen sei früh genug. Unschlüssig sah sie die belebte Fuhlentwiete hinunter. Es war nicht weit bis zur Hannöver’schen Poststation auf der Hohen Brücke. Nur über den Herrengraben- und den Alsterfleet, am Heilig-Geist-Stift vorbei, den Rödingsmarkt hinunter, über die Kajen – schon war sie am Hafen und bei dem großen Haus auf der Brücke. Und vielleicht … nein.
Entschlossen schob sie das Tor auf – und ließ es wieder zufallen, raffte die hinderlichen Röcke und rannte los.
«Nein, Mademoiselle. Keine Post für die Becker’sche Gesellschaft. Auch heute nicht.» Der Posthalter in der Station an der Hohen Brücke am Hafen hob bedauernd die Schultern und stieß zugleich seine rutschende Brille die Nase hinauf, was ihm unter seinem spärlichen Haupthaar mit den über der Stirn abstehenden rötlich braunen Fransen ein kurios affenartiges Aussehen gab. «Auch nicht für Mademoiselle Hardenstein», erklärte er. «Fragt heute Abend wieder, dann kommt noch eine Kutsche, das Wetter ist ja wieder tadellos. Wäre es das nicht, käme die Kutsche erst morgen früh. Wie in den Monaten, wenn die Straßen morastig sind. Am sichersten fragt morgen – oder doch heute noch –, die reitenden Posten mit besonders eiligen und wichtigen Briefen erreichen uns mehrfach an jedem Tag, die Kutschen mit der allgemeinen Post natürlich auch. Ständig kann Post aus Göttingen eintreffen.»
Stolz, als sei die Einrichtung der so regelmäßig verkehrenden, reitenden und fahrenden Posten sein Verdienst, rieb er mit vorgeschobenem Kinn die Hände vor der Brust.
Die junge Frau mit den üppigen honigblonden Locken zeigte sich leider wenig beeindruckt. Seit über zwei Wochen fragte sie nahezu alle Tage nach Post. Für seinen Geschmack war sie ein wenig zu spröde, aber trotz der feinen Narbe, die von ihrem linken Ohr über die Wange bis hinunter zum Kinn verlief, ungemein ansehnlich. Sie war nur eine fahrende Komödiantin, das hatte er inzwischen erfahren. Trotzdem hätte er nichts dagegen gehabt, wenn sie ab und zu ein wenig länger geblieben wäre, um mit ihm über das Wetter, die Gefahren auf den Straßen und deren Bedeutung für die reitenden Posten wie für die Kutschen zu plaudern oder – das wäre ihm am liebsten gewesen – zu verraten, von wem sie so dringlich einen Brief erwartete. So wie es einige der Mägde und Diener taten, wenn sie private Post für ihre Herrschaft abholten. Manchmal vergaß sich sogar ein besonders schwatzhafter Kontorbote, was er allerdings nicht goutierte. Als Mann einer der beiden größten und bedeutendsten Poststationen der Stadt kannte er seine Pflicht und achtete peinlich darauf, dass Angelegenheiten des Handels und anderer Geschäfte mit größter Diskretion begegnet wurde.
Sie hingegen murmelte stets nur einen raschen Dank und war schon wieder verschwunden. Nicht so an diesem Tag.
«Seid Ihr ganz sicher?», fragte Rosina. «Vielleicht ist ein Brief übersehen worden und steckt in einem der Körbe? Wenn Ihr noch einmal nachsehen
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