Der Tote im Eiskeller
sein, mir das vorzuwerfen?»
Als Wagner sich verabschiedete, begleitete Pullmann ihn hinaus. Für einen Moment standen sie nebeneinander, sahen hinaus über den friedvollen See und schwiegen.
«Dann sucht Ihr den Mörder also bei den Bauern», sagte der Chirurg endlich. «Seltsam, dass wir das Böse so gerne dort vermuten, wo das Unglück schon Einzug gehalten hat.»
«Gar nicht seltsam», sagte Wagner, «nur nahe liegend.»
«Oder ein verführerischer Weg zur einfachsten Lösung.Oft genug ein Irrweg, glaubt Ihr nicht? Von Eurer Arbeit verstehe ich nichts, Weddemeister, es liegt mir fern, ungebetene Ratschläge zu geben. Trotzdem, bei den Bauern in den Marschen mögen raue Sitten herrschen, in einer Garnison aber auch. Lasst Euch von der Disziplin und den adretten Uniformen nicht blenden.»
Damit tippte er grüßend gegen die Stirn, schlenderte zurück in sein Haus und zog die Tür fest ins Schloss.
Wagner überquerte die Lombardsbrücke, ohne den Blick nach links oder rechts zu wenden, er bemerkte nicht einmal den plötzlich hohlen Klang seiner Schritte auf den Bohlen. Ebenso wenig das flache Boot, das von sechs kräftigen Armen flussaufwärts gerudert unter der hölzernen Brücke stadtauswärts glitt und die Lücke in der zweihundert Fuß weit im äußeren Alstersee vorgesetzten Pfahlreihe passierte, ohne dass die Wachen aus dem Zollhäuschen traten und es aufhielten und kontrollierten.
Hätte er sich müßig auf das Geländer gelehnt und die ungestörte Durchfahrt des Bootes beobachtet, hätte ihn das vielleicht geärgert, jedoch kaum gewundert. Vielleicht hätte er auch darüber nachgedacht, ob das gestohlene Pulver und die Kugeln nicht mehr in der Stadt lagerten und deren Sicherheit bedrohten, sondern auf diese Weise aus der Stadt geschafft worden waren. Frech und am hellen Tag auf einem Boot an der mitten im Fluss stehenden Zollhütte und den Wachen vorbei. Samt den silbernen Deckelhumpen der Bürgerkapitäne.
Wie groß war die Gefahr, dabei entdeckt zu werden? Wenn die Soldaten und die Männer im Boot einander von vielen Passagen kannten, gering. Dann riefen sie den Wachen zu, sie führen leer zurück, nannten den Namen eines Dorfes irgendwo flussaufwärts, und die Soldaten zogen nuran ihren Tabakspfeifen und sahen ihnen nach. Es sei denn, sie langweilten sich, dann mochten sie selbst ein leeres Boot mit großer Gründlichkeit inspizieren.
Doch daran dachte Wagner jetzt nicht. Während er auf der Wallstraße die bis in die Mitte des Sees gebaute Bastion Davidus passierte und im Schatten der Ulmen auf die nächste, auf Vincent zuging, dachte er daran, warum die Magd des Chirurgen ihn kannte. Er hatte sich nicht gleich an ihren Namen erinnert, aber an ihr Gesicht, wenn es sich auch inzwischen sehr verändert hatte. Ihre Unruhe, ihre hastige Versicherung, sie tue ihre Arbeit, bewies, dass seine Erinnerung richtig war. Marie hatte im Spinnhaus gesessen, er selbst hatte sie dorthin gebracht und – mehr oder weniger – auch wieder daraus befreit.
Das Spinnhaus war ein böser Ort. Anders als im benachbarten Werk- und Zuchthaus, das vor allem Arme und arbeitsscheue Elemente aufnahm, waren hier einige hundert Gassenhuren, Diebe und unverbesserliche Bettler bei karger Kost und nie endender Arbeit eingesperrt, zumeist bis an ihr Lebensende. Die meisten mussten spinnen, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Besonders gefürchtet war das Ausklopfen und Verspinnen von Kuhhaaren, die zu Fußbodenmatten gewebt wurden. Der ätzende kalkige Staub machte die Lunge krank und brachte Krätze. Weil die Arbeit mit den Haaren leichter war als mit der Wolle, wurde sie von den Knaben getan. Appelle vernünftiger Männer, sie solle nur von den ärgsten Verbrechern zur Verschärfung ihrer Strafe ausgeführt werden, besonders aber von rückfälligen Huren, die schon ausgepeitscht und aus der Stadt gewiesen worden waren und sich wieder durch die Tore hereingeschlichen hatten, waren bisher ungehört geblieben.
Bei Unbotmäßigkeit und Widersetzlichkeiten wartetenPranger, Halseisen und Peitschen im Hof. Gefürchtet war auch ein Stuhl in einem eisernen Käfig hoch über den Köpfen der anderen. Wer das Pensum nicht schaffte oder dem Aufseher als faul erschien, musste darin sitzen und hungernd den anderen beim Essen zusehen. Die Deportation nach dem unwirtlichen Neuschottland, die nur genehmigt wurde, wenn die Straf- und Arbeitshäuser überfüllt waren, erschien vielen als Rettung, und dass jemand lieber seinem Leben
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