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Der Tote im Eiskeller

Der Tote im Eiskeller

Titel: Der Tote im Eiskeller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Abzweigung zum Strand und zum Hornwerk hinunterführte, der weit vorgeschobenen Doppelbastion zur Verteidigung von Stadt und Hafen gegen feindliche Schiffe, blieb sie noch einmal stehen und ließ den Blick zurück und über das weite Flusstal wandern. Wenn die Stadt mit ihrem Lärm und Gestank, mit ihrer Enge und dem Gewimmel viel zu vieler Menschen ihr allzu beklemmend erschien, flüchtete sie am liebsten hierher: an den Rand der noch kaum bebauten, ‹Hamburger Berg› genannten Fläche; zu dem freien Blick über den Fluss, die Inseln und die dahinter liegenden Hügel. An schlechten Tagen holte der Gestank sie auch hier ein. Dann stiegen vom Ufer die Dämpfe der Tranbrennereienauf, in denen der von den Grönlandfahrern gebrachte Walspeck ausgekocht wurde. Die erschienen ihr noch übler als die Ausdünstungen von Jauche und Verwesung von den Gerbereien und Leimsiedern.
    Noch brannten die Feuer unter den riesigen Kesseln nicht, die Luft roch herb und süß zugleich nach spätem Sommer, der Wind, der sie auf dem Herweg begleitet und erfrischt hatte, war nur noch eine sanfte Brise, doch er brachte die Kühle des Abends mit.
    Sie sah zu den kleinen, gelblichen und braunen Segeln der letzten Ewer hinunter, zu den großen, schon zur Hälfte gerefften zweier Barken, die mit der Kraft der auflaufenden Flut noch vor Toresschluss den schützenden Hafen zu erreichen suchten. Auch der wurde bei Sonnenuntergang geschlossen, dann stiegen die Baumschließer in ihre Boote und zogen an starken Ketten befestigte Schwimmbäume vor die Einfahrt. Wahrscheinlich kamen die Barken schon zu spät und mussten im Fluss ankern. Kein Schiff passierte die schmale Einfahrt, ohne vom Zoll geprüft zu sein, und dafür reichte die kurze Zeit bis zur Dunkelheit nicht mehr.
    Von den behäbigen Dreimastern wehten Stimmen herüber, sie sah klein erscheinende Gestalten an Deck und auf den Rahen, die Steuermänner an ihren großen Rädern, sie hörte Möwen kreischen, entdeckte einen Kormoran, der als schwarze Silhouette lautlos durch den Himmel glitt, und fühlte sich frei. Wenn sie auf dem Hochufer über der Elbe stand, vor sich die unendlich erscheinende Weite und den Weg in die Welt, dachte sie nicht mehr an warme Lichter hinter den Fenstern behaglicher kleiner Stuben.
    Über den Inseln lag zarter Dunst und verschleierte auch das letzte Sommergrün zu herbstlich müden Farben. Die Nacht würde neblig werden und der folgende Morgen kalt.
    Hinter dem linken der beiden Fenster des kleinen Hauses,das keine zweihundert Schritte zurück in seinem gepflegten üppigen Garten stand, glimmte ein Licht auf, und Rosina stellte sich vor, wie Matti einen Span an das Küchenfeuer hielt und die erste Kerze anzündete, wie Lies die unter der grauen Haube dunkel wirkenden Augenbrauen runzelte und murmelte, es sei Verschwendung, eine Kerze anzumachen, bevor das letzte Licht das Tages geschwunden sei. Dann würde Matti mit der ihr eigenen Gelassenheit nicken – und den Span an den Docht der zweiten Kerze halten, vielleicht sogar an den der Öllampe, was eine noch größere Verschwendung war.
    Wie immer, wenn Rosina die beiden Frauen in dem kleinen Haus besucht hatte, fühlte sie sich leicht und froh. Matti, die alte Hebamme, hatte ihr ganzes Leben dort verbracht, in bescheidenem Wohlstand, der über die Einkünfte des kargen Wehmutterlohns hinausging.
    Lies hatte mit Fahrenden auf den Straße gelebt und zuletzt viele Jahre zu den Becker’schen Komödianten gehört. Bis sie die vertraute Freundin ihrer Jugend wieder traf und Mattis Einladung, wenigstens ihre späten Jahre mit ihr zu verbringen, nicht widerstehen konnte. In Mattis Haus in dem sonnendurchfluteten Garten, mit dem wärmenden Kachelofen, dem würzigen Duft von unter der Decke der Wohnstube trocknendem Thymian und Lavendel, Minze und Rosmarin, mit der friedvollen Stimmung, die auch die zur Knurrigkeit neigende alte Lies nicht verändert hatte.
    In diesen Tagen wurde die Ruhe in Mattis Haus von einem neuen kleinen Erdenbürger durchbrochen. Wille war kaum ein halbes Jahr alt, sein Kopf kahl, seine Augen wach und himmelblau. Er war ein dünnes Kind, und seine Haut zeigte Reste von Milchschorf. Nicht mehr lange, hatte Matti gesagt, Wille sei stark und gesund und bald so rundlich, wie so ein kleiner Kerl sein müsse.
    Rosinas Frage, wem das Kind gehöre, hatte sie mit einem liebevollen Blick auf den Kleinen überhört, und Lies hatte geknurrt, er sei eben ein Kind, das guter Obhut bedürfe, ob es neuerdings bei

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