Der Tote im Eiskeller
selbst ein Ende setzte, als es hier auszuhalten, war keine Seltenheit. Im vergangenen Mai hatte eine Frau eines der Kinder erstochen, weil ihr, so hatte sie gesagt, der Galgen lieber sei als das Leben in diesem Haus, das nichts als ein langsames Sterben in einer Hölle sei.
Wagner hatte nie viel darüber nachgedacht. Eine Stadt brauchte solche Orte, und wer sich nichts zuschulden kommen ließ und ein arbeitsames Leben führte, musste sie nicht fürchten.
So hatte er gedacht, bis er Karla begegnete, bis auch sie im Spinnhaus landete, weil sie im Keller des Johannisstifts Vorräte gestohlen hatte. Nicht für sich, sondern im Auftrag ihres Dienstherrn, eines wahrhaft üblen Kerls. Wenn sie widersprach, ließ er sie hungern. Wahrscheinlich wäre sie wie die meisten, die keine Familie hatten, sie aufzunehmen, für den Rest ihres Lebens im Spinnhaus geblieben, wäre Wagner nicht von ihm bis dahin unbekannten Gefühlen überfallen worden und endlich auf eine kluge Idee gekommen. Es war ihm gelungen, den Rektor der Lateinschule davon zu überzeugen, für das Mädchen zu sprechen. Dass es geglückt war, erstaunte ihn immer noch.
Karla, so hatte der zuständige Vogt bestimmt, werde entlassen, sobald sich jemand finde, der ihr Arbeit und Unterkunft gebe. Auch das war gelungen. Matti, die alte Hebamme auf dem Hamburger Berg, hatte das Mädchenaufgenommen, sie viel Nützliches gelehrt und auch die verwundete Seele getröstet.
Nun war Karla schon seit einem guten Jahr Madame Wagner. Dass der Weddemeister eine heiratete, die im Spinnhaus gesessen hatte, war ein Skandal gewesen, die alle überraschende Erlaubnis des Weddesenators hatte die bösen Mäuler halbwegs gestopft.
Als Karla ihm aus dem Spinnhaus erzählt hatte, hatte er zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob der Umgang mit Armut und Unmoral in dieser Stadt christlich und klug war. Auch diese Gedanken waren wenig ersprießlich gewesen. Dass viele der Frauen dort ohne eigene Schuld eingesperrt seien, hatte er trotzdem nicht hören wollen. Das behaupteten doch alle.
‹Und ich?›, hatte sie gefragt. Sie sei schuldiger als Marie und nicht mehr dort. Marie sei ein guter Mensch, sie sei nur im Spinnhaus, weil man sie verleumdet habe. Sie habe ihr, Karla, beigestanden, als sie im Fieber brannte, ganz sicher wäre sie ohne diese Hilfe gestorben. Oder im Pesthof gelandet, wo man irre werde und auch nur im Sarg wieder herauskomme.
Nach ausgiebigem Gebrauch seines blauen Tuches hatte Wagner nachgegeben, den nächsten klugen Einfall gehabt und nach einer schlaflosen Nacht voller Zweifel einen Besuch bei den Damen des Hauses Herrmanns gemacht. Madame Anne und Madame Augusta hatten nicht lange gezögert und ihrerseits einen Besuch bei Pastor Alberti von St. Katharinen gemacht, der ein gerechter und vernünftiger Mann war und trotz mancher Anfeindungen hilfreiche Beziehungen hatte. So war die Sache wundersamerweise neu geprüft worden, und weil sich alles als unklar erwies, die Zustände im Spinnhaus längst in der Diskussion und Alberti ein beharrlicher Mann war, war die Frau entlassenworden, wie zuvor Karla unter der Bedingung, dass sich Arbeit und Unterkunft finde.
Die ganze Angelegenheit war Wagner höchst unangenehm gewesen. Die Vorstellung, die hilfreiche Marie könne sich, kaum wieder in Freiheit, als ein böses, unsittliches Weib entpuppen, das tatsächlich ins Spinnhaus gehörte, und seine Fürsprache als einfältig entlarven, hatte ihn noch oft schwitzen lassen. Karla war klug genug gewesen, nie wieder mit ihm darüber zu reden. Nun wusste er, dass er Glück gehabt hatte.
Auch Marie hatte Glück gehabt. Die meisten Frauen, die in die Freiheit zurückkehren konnten, schufteten hinfort in den Manufakturen, wo sie ihre Gesundheit ruinierten und kaum genug verdienten, um nicht Hungers zu sterben. Marie sah gesund und wohlgenährt aus, ihr Dienstherr schien sie auch sonst gut zu behandeln. Ja, sie hatte mehr Glück gehabt als alle, von denen er nach ihrer Entlassung wieder gehört hatte. Bis auf Karla natürlich.
Offenbar kannten der Pastor oder Madame Herrmanns den Chirurgen, vielleicht war er ihnen etwas schuldig gewesen. Er durfte nicht vergessen, bei Gelegenheit danach zu fragen.
Es schien Wagner erstaunlich, dass jemand wie Pullmann eine aus dem Spinnhaus aufnahm. Und aufnehmen durfte, immerhin unterstand der Chirurg der Garnison. Andererseits, wenn selbst ein Weddemeister eine solche Frau heiraten durfte …
Wagner wusste nicht, was er von dem Chirurgen
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