Der Tote im Eiskeller
Der Mann, den die Kugel erwischt hat, als die Deiche durchstochen wurden. Den Befehl für diese Schießerei hat Malthus gegeben, und der ist nun tot.»
«Kanntet Ihr ihn?»
«Den Bauern?»
«Den auch. Aber jetzt meine ich den Oberleutnant.»
«Aber ja. Glaubt mir, niemand in der Garnison, der ihn nicht kannte. Malthus war ein Mensch, den man nicht übersah. Wenn er einen Raum betrat, dann sahen ihn alle. Und alle anderen schienen neben ihm blass. Erstaunlicherweise war er trotzdem beliebt, nicht nur, weil er ein so glänzender Kartenspieler wie Reiter war. Das zählt viel bei den Männern der Garnison. Er war tatsächlich ein netterMensch. Äußerst gern sahen ihn natürlich die Damen. Er hatte dieses Besondere, das alle Weiberröcke zittern und die Jungfrauen lieblich erröten lässt. Diese Mischung aus hanseatischer Kühle und Wiener Manieren. Wirklich beneidenswert. Außerdem war er einer der Günstlinge des Stadtkommandanten. Günstling ist etwas zu viel gesagt, es hört sich unredlich an, das kann und will ich keinesfalls behaupten. Der Alte mochte ihn einfach, die Kommandantin übrigens auch, aber kommt nicht auf falsche Gedanken, sie ist ja eine äußerst respektable Matrone. So viel ich gehört habe, war er auch ein tadelloser Soldat. Ich meine damit nicht den Dienst hier in der Stadt, der fordert wenig Courage und strategische Talente, sondern in den Schlachten der kaiserlichen Armee.»
«Dann kanntet Ihr ihn schon aus Wien? Er hat doch in Wien gedient?»
«Unter anderem, wo sonst noch, weiß ich nicht. Aber nein, ich kannte ihn nicht aus Wien, obwohl ich selbst einige Zeit dort war. Ich kannte Malthus auch hier nur flüchtig. Vergesst nicht: Ein Wundarzt ist nicht so viel wert wie ein Offizier. Aber bei der einen oder anderen Gelegenheit sind wir uns begegnet. Er war – lebenslustig. Und dabei ein angenehmer Mann. Kein Aufschneider.»
«Es hört sich trotzdem an, als hättet Ihr keine besondere Zuneigung für ihn gehegt.»
«Zuneigung? Das ist ein großes Wort. Ich hatte nichts gegen ihn, das trifft es, glaube ich, ganz gut. Aber wolltet Ihr nicht eigentlich etwas über den Bauern mit dem zerschossenen Arm wissen? Auch da kann ich Euch nicht viel sagen. Ich hoffe, der arme Teufel lebt noch. Ich musste ihm den Arm abnehmen. Nicht gleich, zuerst dachte ich, wir könnten es auch so schaffen. Aber es ging nicht. Nach vier Tagen war klar, dass nur noch die Säge half.»
«Die Säge, ja. Gewiss.» Wagner spürte seinen Mund trocken werden, er hätte gerne einen Schluck Wasser gehabt. «Nach vier Tagen, sagt Ihr. Dann müsst Ihr noch einmal in der Marsch gewesen sein. Also könnt Ihr mir auch sagen, wie er heißt und wo er wohnt.»
«Ich wäre der Wedde gern zu Diensten, aber ich muss bedauern, weder weiß ich, wo er wohnt, noch kenne ich seinen Familiennamen. Er hat keine Wohnung mehr. Da Ihr wisst, dass die Marschinsel, auf der er lebte, geflutet wurde, kann Euch das kaum überraschen. Ich war nicht dort, bei Nachbarn oder Verwandten auf trockenem Land, wo er hätte Zuflucht finden können. Als er am Deich zusammenbrach, habe ich ihn gleich dort draußen behandelt und verbunden. Es war gar nicht einfach, er blutete heftig, aber wenigstens nicht tödlich. Ich wusste, er würde weiter Hilfe brauchen und dort keine bekommen. Also habe ich ihm gesagt, wo er mich finden kann.»
Vier Tage später hörte Pullmann vor seinem Fenster Rufe. Er ging hinaus, und da stand ein Mann, offenbar einer der anderen vertriebenen Bauern, neben ihm eine junge Frau mit verweinten Augen. Auf einem zweirädrigen Karren lag unter einer alten Decke der Verwundete.
«Kurz und gut, Weddemeister, da half, wie ich schon sagte, nur noch die Säge.»
«Und dann?»
«Dann war der linke Arm ab. Ich habe die Blutgefäße so gut es ging genäht, das ist übel bei entzündetem Fleisch, und die Haut über der Wunde. Wie man als Chirurg eben versucht, einen ordentlichen Stumpf zu machen. Er war noch zweimal hier, dann nicht mehr. Die Wunde heilte. Ich hätte ihn lieber nochmal gesehen, aber er ist nicht mehr gekommen. Er muss eine Bärennatur haben. Es sei denn», sein Mund verzog sich zu einem maliziösen Lächeln, «essei denn, er ist doch noch gestorben. Was nicht verwunderlich wäre, Amputationen führen nicht unbedingt zum Leben, selbst wenn sie jemand durchführt, der kein Scharlatan ist. Gebt gut auf Eure gesunden Glieder Acht, Weddemeister. Sie sind unersetzlich.»
«Dann habt Ihr ihn viermal gesehen und behandelt. Viermal. Und
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