Der Tote im Eiskeller
ältesten Sohn einsetzen. Nicht gänzlich, das wäre unklug gewesen, denn Viktor verstand sich nicht auf die Gärtnerei und die Geschäfte, Elias hingegen ist ungemein tüchtig in seinem Metier. Und erfahren, ja. Aber Elias war dazu nicht bereit. Testament ist Testament, hat er gesagt, nur was gesiegelt ist, gilt, nichts sonst. Er soll auch gesagt haben, Viktor werde die Gärtnerei in kürzester Zeit ruinieren, aber das kann ich nicht glauben. Seine Weigerung, die gar nicht von brüderlicher Liebe und Sohnesgehorsam sprach, hätte ihm nichts genützt.» Sie warf einen flinken Blick zur Tür, stellte befriedigt fest, dass sie verschlossen war, und beugte sich über den Tisch Augusta und Anne zu. «Ernestine ist eine gerechte Frau, die Wünsche ihres Gatten sind ihr über seinen Tod hinaus Gesetz und – das mal unter uns – über Viktor ging ihr nichts. Und niemand, wenn Ihr versteht, was ich meine. Nach dem Testament haben sie und Elias je die Hälfte des Besitzes geerbt. Nach Ernestines Heimgang sollte Elias natürlich auch den Rest bekommen. Das Testament wurde ja geschrieben, als Viktor noch verschollen war und allgemein als tot galt. Nun war Viktor wieder da, und Ernestine wollte, dass alles seine gottgegebene Ordnung hat. Sie wollte ihm als dem ältesten Sohn ihr Erbe überschreiben. Alles. Das Testament enthielt keine Klausel, die das verhindern konnte. An so etwas hatte der liebe Wilhelm natürlich nicht gedacht. Ihr könnt Euch vorstellen, wie Elias das fand. Besonders soll ihn gegrämt haben, dass dazu auch der Garten am Gänsemarkt gehörte. Der ist nicht nur prächtig und wertvoll, so ein großes Grundstück mitten in der Stadt und direkt an der Alster. Er ist auch die Seele der Gärtnerei, denn dort hat einst alles angefangen, und Elias ist ein Mann, dem die Tradition über alles geht. Über alles, ja.»
Augusta vergaß die Contenance und pfiff leise durch die Zähne, und Anne sagte rasch: «Das kann Elias wirklich nicht gefreut haben. Da hat es sicher heftigen Streit gegeben.»
«Ha!» Madame Polter leerte in einem Zug ihr drittes Glas. «Elias ist keiner, der laut wird oder streitet. Er ist zum Advokaten gelaufen, das ist er.»
«Und?»
«Und was?»
«Was hat der Advokat gesagt?»
Zum ersten Mal wusste Madame Polter keine Antwort. «Was weiß ich», sagte sie, schob ihr ins Rutschen geratenes Schleierchen in die Mitte ihrer hoch aufgetürmten Frisur zurück und kämpfte mit einem aufsteigenden Schluckauf. «Das spielt nun keine Rolle mehr, Viktor ist tot.»
Plötzlich rötete sich ihr Gesicht von den Haarwurzeln bis zum Dekolleté hinunter, und sie starrte Anne und Augusta mit schreckgeweiteten Augen an. «Ihr werdet doch nicht glauben, ich wolle damit sagen, Elias habe – nein, das könnt Ihr nicht. Ihr werdet niemandem sagen, ich hätte Elias im Verdacht, seinen Bruder …» Sie griff nach dem Zipfel ihrer Bluse und tupfte sich fahrig über die Oberlippe. «Elias ist ein guter Mensch, das ist er. Unbedingt. Nie würde ich anderes behaupten. Er hat seinen Bruder geliebt, das müsst Ihr mir glauben. So eine kleine Meinungsverschiedenheit, was bedeutet die schon? Das kommt in allen Familien vor. In den besten …»
Die Tür öffnete sich mit leisem Knarren, und Madame Polter fuhr hastig herum. Ernestine Malthus war aufgewacht.
Sie war eine mollige kleine Frau Ende der fünfzig, ihr nussbraunes Haar nun völlig ergraut, die hochgeschlossene Trauerkleidung ließ ihr bleiches Gesicht noch bleicher,die geröteten blassblauen Augen noch entzündeter erscheinen.
«Madame Kjellerup», flüsterte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Augusta.»
Augusta hatte sich nie träumen lassen, Ernestine Malthus, das dumme Huhn, jemals zu umarmen. Doch nun stand sie vor ihr, klein und grau, in hilflosem Jammer gegen die Tränen kämpfend, auf der Suche nach den richtigen Worten, ihre Gäste zu begrüßen, und Augusta schloss sie fest in die Arme. Anne sah die beiden aneinander gelehnten Frauen, die ältere und die alte, hörte Ernestine aufschluchzen und Augusta Unverständliches murmeln und begriff, was sie über ihre Verschiedenheit hinaus verband. Sie hatte stets bedauert, keine eigenen Kinder zu haben, nun empfand sie zum ersten Mal Erleichterung über diesen Mangel in ihrem sonst so reichen Leben.
«Na?», fragte Helena leise. «Zufrieden?»
Rosina nickte, faltete den Brief zusammen und schob ihn in ihre Rocktasche. «Ja», sagte sie. Mehr nicht.
«Nun sag es schon: Was schreibt
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