Der Tote im Grandhotel
Malbuch, ein Heft mit Stickern, lauter scheußlich kitschige Monster, höchst geschmacklos und pädagogisch total daneben. Und, in Mickymaus-Papier eingewickelt, ein Karton aus Plastik und Pappe, mit einem ›Schaufenster‹, durch das man gleich den Inhalt sah. Knete in Stangenform, rot, orange, grün und schwarz, daneben kleine Plastikformen wie zum Plätzchenbacken. Blume, Baum, Hase, Haus. Auf dem Rand des Deckels war in bunten Bildern gezeigt, was man daraus machen konnte, ›für Kinder ab drei‹, Aufschrift in Englisch und Spanisch und Deutsch.
Beim Öffnen im Labor verströmte die Knete einen leichten Nitro-Geruch. Chemikers Sternstunde! Die Knete war Sempex H, der Wundersprengstoff, weltweit Lieblingswaffe von Terroristen und anderen Schwerverbrechern. Stammte ursprünglich aus Tschechien, kursierte aber inzwischen weltweit, oft kopiert, nie erreicht.
Im Pan-Am-Jumbo ›Maid of the Seas‹, der 1988 bei Lockerbie abgestürzt war, waren dreihundert Gramm Sempex im Kofferradio eingeschleust und gezündet worden. Die IRA hatte Häuser damit gesprengt; Tote inklusive. Es wurde unter Autos und hinter die Tresen von Lokalen geklebt, in Kaufhausfahrstühlen versteckt und für Explosionen jeder Art verwendet.
Der Chemiker Stanislaw Brebera hatte es einst für Nord Vietnam als Super-Version seiner Erfindung Sempex kreiert. Jetzt war es eine Legende. Ging überall hin, wo im großen Stil oder auch nur mal eben so getötet werden sollte. Die Tschechen hatten inzwischen kalte Füße bekommen, machten mehr die harmlose Ausgabe für Sprengungen in Steinbrüchen und Ähnliches. Aber Sempex H blieb im Rennen.
Die Knete ließ sich einfach transportieren. Luftdicht in Plastik verpackt – wie in dieser Spielzeugschachtel – passierte sie die raffiniertesten Kontrollen auf Flughäfen und Straßen.
Solange nicht eine Prise Initialzündstoff dazukam, war der Transport völlig harmlos. Das ›Kind ab drei‹ hätte wirklich unbeschadet Häuschen, Häschen und Vögel aus dieser Schweinerei basteln können. Mörder konnten es überall unauffällig anbringen, weil es sich in jede beliebige Form kneten ließ.
Die gefundene Menge Plastiksprengstoff im Mickymaus-Papier war eigentlich zu gering als Anlaß für einen Mord, wie auch immer. Andererseits wurden Morde aus nichtigeren Anlässen begangen. Und um ein kleineres Flugzeug zu atomisieren, dachte Wedel rüde, würden Häuschen, Bäumchen und Blümchen allemal reichen.
»Es könnte das Unternehmen eines Einzeltäters sein. Aber ich könnte mir auch vorstellen, daß ein kleiner Fisch hier unabsichtlich ins Haifischbecken geraten ist«, vertraute Wedel seiner jungen Kollegin Mady Saparonsky an, die ihn wieder mit Eulenaugen anstarrte, als wolle sie ihn hypnotisieren. Oder vernaschen.
Es war aber bei der nur der reine Ehrgeiz. Die Kleine war ehrgeiziger, als es die Polizei erlaubte. Clever, fleißig bis unermüdlich, gesund. Dabei auch noch recht hübsch. Wenn sie nur ein bißchen Glück hatte, stand ihrer Karriere nichts im Wege, Quotenfrau oder nicht.
»Der Tote ist möglicherweise Russe«, spann er sein Garn weiter. »Vielleicht O.K. – organisierte Kriminalität? Russen, Polen und Italiener kämpfen hier um Terrain. Chinesen halten sich zur Zeit noch an ihre eigenen Leute. Zigeuner sind eher auf Kleinkram spezialisiert. Außer in den neuen Bundesländern. Da mischen sie schon oben mit. Aber den ganz großen Kuchen schneiden neuerdings von der anderen Seite aus eben die Russen an, Tschetschenen vorneweg, die russischen ›Südländer.‹ Und das sehen die italienischen Südländer, unsere alten Freunde von der Mafia, nun aber gar nicht so gern.«
»Es könnte um den Aufbau einer neuen Rauschgift-Connection gehen, wie damals San Francisco – Paris«, gab Mady ihren Senf dazu.
»Das war graue Steinzeit, Mädchen. Jetzt ist Krieg auf der ganzen Linie. Da geht's um geklaute Autos ebenso wie um entführte und an verschwiegener Stelle umgeladene Lastwagen mit wertvoller Fracht wie Uzi-Maschinenpistolen und Pumpguns und was sonst nicht niet- und nagelfest war auf den ehemaligen Stützpunkten der Sowjetarmee, um erpreßte Schutzgelder, Prostitution und Ikonenschmuggel, den Erwerb von seriösen Betrieben wie Gaststätten und Spielsalons zum Beispiel, die gar nicht florieren müssen, sondern nur der reinen Geldwäsche dienen. Um Drogen natürlich erst recht.«
Mady nickte.
Wichtigtuerisch, fand Wedel.
»Was wir wissen, stützt sich doch im Grunde alles nur auf
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