Der Tote im Grandhotel
sporadisch Pelze vor, dann verrückte Klamotten bei der Junge-Mode-Woche. Sie machte eine nette kleine Karriere, ließ alles stehen und liegen und startete nach Paris. Eine Agentur nahm sie unter Vertrag. Sie hungerte noch einige Pfunde herunter, ließ die Nase verkleinern und den Busen neu stylen. Von einem verheirateten Geschäftsmann bekam sie eine Wohnung und ein Kind. Der Sohn hieß Alain. Ihr Französisch behielt einen deutschen Akzent, der den Leuten gefiel.
Sie trug mit Vorliebe Sachen von Kenzo. Als sie sich von ihrem gealterten Liebhaber trennte, ließ sie ein neues Lifting machen und setzte ihren Weg entschlossen fort, nicht an die Spitze, aber im guten Mittelfeld – bis viel jüngere Frauen ihre kleinen Hintern über die Laufstege schwenkten, die Bars rauchiger und die Drinks schwerer erschienen und der Überblick über Zigaretten- und Männerkonsum sich schwieriger gestaltete.
Charlotte machte wieder einen neuen Anfang. Sie ging zurück nach Berlin und eröffnete eine Boutique für Second Hand und Neues. Beziehungen hatte sie genug. Ihr Laden wurde ein Erfolg, wie alles, was Charlotte anpackte. Alain fehlte ihr ein bißchen, aber er studierte in Paris und besuchte sie manchmal.
Ihr kleiner Neffe Moritz, der da aus der Provinz anreiste, erinnerte sie an die eigenen Anfänge. Sie nahm ihn unter ihre Fittiche, besorgte ihm die Wohnung im Zentrum, gab ihm Tips, wie man sich einrichtete, anzog, benahm.
Als sie ihn zum erstenmal abends in eine Bar ausführte, trug sie einen durchsichtigen Body mit langen Ärmeln, der unter schwarzem Stretchnetz ihre tadellosen nackten Brüste sehen ließ, und dazu eine Art rotes Tutu, schwarze Strumpfhosen und rote Pumps. Moritz war nicht so naiv zu glauben, dies sei die übliche Kleidung weltläufiger Damen für die mondäne Bar, ob in Berlin, in Paris oder anderswo.
Er blickte ihr tapfer in die Augen, vermied es, auf ihren Busen zu starren, gab ihr Feuer für zahlreiche Zigaretten und tanzte locker mit ihr auf der Glasfläche, die Laserstrahlen aus der Wirklichkeit herausschnitten.
Sie amüsierten sich beide. Charlotte fand es süß, daß der hübsche Bengel hier Große Welt spielte. Moritz dachte, daß seine Tante, die so hieß wie die kleinen französischen Zwiebeln, vielleicht doch eine wildgewordene Kleinstädterin war.
Nun ruhte Moritz in seiner Wohnung aus und genoß Phil Collins' samtigen Elendssong. Der Dienst war anstrengend. Aber Moritz beklagte sich nicht. Er hatte eine Freundin: Enna, Arzttochter, hübsch und solide. Er wußte wohl, daß es ihn zu Männern hinzog, aber das wollte er nach Kräften ignorieren. Wie es Thomas Mann getan hatte. Ja, er würde ein stinknormales bürgerliches Leben führen, keine Randexistenz sein. Er haßte die kämpferische wie die weinerliche Pose, mit der sich schwule Männer oft im Fernsehen präsentierten. Er wollte die Karriere in der Welt der Heteros. Heiraten. Kinder haben. Es war möglich. Er konnte mit Frauen.
Eisern übte er mit seinem Expander, machte Liegestütze und danach noch die Isometric-Übung, die er schon als Knabe in Rendsburg durchgeführt hatte: Mit aller Kraft stemmte er sich gegen eine Wand und zählte bis fünfzehn. Das machten die russischen Sportler so, hatte er damals in einer Zeitschrift gelesen. Es setzte Muskeln an.
Heute kam er nicht weit mit seinen Übungen. Ganz plötzlich verharrte er, um den Plan herauszulassen, der sich im Unterbewußtsein entwickelt hatte. Er kannte den angeblichen Paul Hugendübel, der spurlos aus dem Grandhotel verschwunden war, vor oder nach dem Mord. Es war Herr Hornung, Besitzer der tollen Villa etwas außerhalb von Rendsburg, der Firmenchef, Stahl- und Kunststoffteile, seit der olle Chef gestorben war.
Moritz hatte ihn gleich erkannt, als er mit der Traumprinzessin Hand in Hand durch die Hotelhalle spaziert war. Fast hätte er so gegrüßt, wie man Leute grüßt, die man kennt. Aber ihm war klar gewesen, daß die Traumprinzessin nicht Frau Hornung war.
Später merkte er, daß der Herr auf Abwegen sich hier Paul Hugendübel nannte. Als Moritz den Champagner in der Suite servierte, hatte sein Herz geklopft, aber Herr Hornung hatte ihn nicht erkannt. Wie denn auch? Schon auf dem Schulhof kannten nur die jüngeren Schüler die der älteren Klassen, nicht umgekehrt. Dieses Gefälle galt natürlich erst recht für Erwachsene: Unten guckt nach oben, nicht umgekehrt.
Der Sohn eines Feuerwehrmannes kannte den Firmenboß, aber der kannte andere Leute. Der sah ihn gar
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