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Der Tote im Grandhotel

Der Tote im Grandhotel

Titel: Der Tote im Grandhotel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Bellin
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auf das Bett und deckte sie mit einem leichten, kühlen Laken zu. Er war klein und muskulös und hatte ein
    nettes, freundliches Gesicht. Blaue Augen mit weißen Wimpern.
    Der Anschein trog. Er war nicht freundlich. Was mochte ihn ver-
    anlassen, bei diesem grausamen Spiel mitzumachen?
    Er ging. Britta wußte, daß sie einen Entschluß zu fassen hatte.
    Nie hätte sie sich vorstellen können, daß Schmerzen so apathisch und entschlußlos machen konnten.
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    Sie zwang sich, noch einmal den Blick aus dem Fenster vor ihr
    inneres Auge zu zitieren. Der Sims? Nicht zu schaffen. Die Tür?
    Absolut unmöglich. Abseilen?
    Es konnte tödlich sein. Aber alles hier war tödlich. Da waren ihre beiden Laken. Die Decken? Tischdecke, Bettüberwurf dort auf dem Stuhl. Im Bad hingen zwei große Badelaken. An der Wanne war
    seitlich ein Duschvorhang aufgehängt. Unmöglich war es nicht.
    Alles mußte sehr fest zusammengeknotet werden. Und sie würde
    dafür sorgen müssen, daß sie nicht dabei überrascht wurde. Zuerst mußte sie sich ausruhen und einen klaren Kopf bekommen.
    Und wenn sie vorher kommen und mich töten? Nein, daran darf
    ich nicht denken. Ich werde jetzt ganz stark sein. Ganz ruhig warten, bis es Nacht ist.
    Als die Dämmerung einsetzte, begann sie, Tücher und Decken im
    Badezimmer zu sammeln und aneinander zu knoten. Die Laken auf
    dem Bett und die Tischdecke ließ sie liegen. Sie würde sie erst zu-letzt anfügen. Falls jemand ins Zimmer kam, sollte er keinen Verdacht schöpfen.
    Wirklich betrat jemand den Raum. Sie rief aus dem Bad: »Juri?
    Ich bin hier!« und bemühte sich, das Seil zwischen Wanne und Toilette zu verstecken. Das Bad ließ sich nicht verriegeln. Natürlich nicht. Würde Juri oder wer immer da drinnen war das Fehlen der
    Bettdecke bemerken? Sie hörte Schritte, ein Rasseln – wieso denn das? –, wieder Schritte, noch ein Rasseln. Sie drückte die Spülung.
    Lauschte. Wartete.
    Die Tür nebenan ging. Sie spähte durch einen Türspalt ins Zim-
    mer. Es war leer. Die Person hatte ihr Brote und ein Getränk hingestellt. Wie die Hexe in ›Hänsel und Gretel‹: Sie mästeten ihr Opfer für den Hauptgang.
    Die Lampen waren eingeschaltet. Der Raum wirkte beinahe an-
    heimelnd. Britta schleppte sich zum Fenster. Sie erstarrte. Die Jalousie war heruntergelassen. Sie war aus Metall. Unmöglich, sie leise 91
    zu öffnen. Falls sie sich überhaupt ohne Schlüssel oder einen ge-heimen Hebel öffnen ließ.
    Britta zwang sich, das zweite Fenster zu überprüfen. Dasselbe.
    Doch am dritten Fenster hatte der Mechanismus gestreikt. Die Jalousie war nur zu gut zwei Dritteln herabgerollt und hing schief in den Angeln. Nur ließ sich jetzt das Fenster nicht öffnen. Oder sollte es möglich sein, förmlich darunter wegzutauchen? Den Riegel zu erreichen? Zu öffnen? Das Seil an das Fensterkreuz zu knoten und
    flach über die Fensterbank ins Freie zu rutschen? Wohl nicht mit diesem zerschundenen Körper.
    Britta versuchte noch einmal vorsichtig, die Jalousie anzuheben, geradezurücken, den Mechanismus zu finden. Aber es war unmöglich.
    Sie dachte an einen Urlaub in Nassau auf den Bahamas, wo sie
    sich bei einem Fest im Limbo versucht hatte. Es war dieser faszinie-rende Tanz, bei dem sich die Tänzer, rückwärts gebeugt, rhyth-
    misch unter tief und tiefer gehängten Stangen hindurchschoben.
    Zum Erstaunen aller war sie darin sehr geschickt gewesen und hatte sogar einen Preis bekommen: eine große Strohpuppe mit einem
    bunten Puschel auf dem Hut, wie sie schwarze Ladies flochten und auf dem Markt verkauften, und einen Kuß von einem der einhei-mischen Beaus mit aufgeknöpftem Hemd über blanker, dunkel-
    brauner Brust und Samtlippen und einem Duft nach Blumen und
    Fisch.
    Nicht weich werden. Sie mußte es schaffen, jetzt! Es gelang ihr mit der Kraft der Verzweiflung, die Jalousie eine Spur zu bewegen und das Fenster zu öffnen. Sie ruhte sich kurz aus, dann knotete sie das eine Ende ihrer Stoffgirlande an das Fensterkreuz. Sie handelte jetzt wie in Trance, als hätte jemand das Kommando übernommen,
    dem sie folgen mußte. Das andere Ende der Girlande knüpfte sie
    fest um ihre Taille.
    Zwar war es unwahrscheinlich, daß alle Knoten und Stoffe halten 92
    würden, aber es war egal jetzt. Vielleicht gaben sie erst nach, wenn sie kurz über dem Erdboden war? Sie zog sich auf die Fensterbank hoch und hangelte sich, mit den Beinen zuerst, langsam an ihrem Seil hinunter. Sie spürte den Sims unter ihren Füßen und spähte

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