Der Tote im Grandhotel
nach unten. Niemand zu sehen.
Viele Menschen waren nicht auf diesem Anwesen, das stand fest.
Sie atmete hastig und ließ die nächste Strecke Stoff durch ihre Hän-de gleiten, während sie versuchte, sich mit den Füßen festzuklam-mern, wie sie es in der Schule beim Seilklettern hatten machen müssen.
Ihre Knie schurrten an der Mauer. Die Hose und auch die Haut
scheuerten durch.
Es war eine dunkle Nacht. Die Solarlampen am Weg leuchteten
wie Glühwürmchen, ohne wirklich einen Lichtschein zu verbreiten.
Die letzten zwei Meter ließ sie sich einfach fallen. Sie landete auf dem Rasen. Daß der rechte Knöchel schmerzte, war unwesentlich.
Geduckt huschte sie zwischen die einzelnen Büsche seitlich des Weges. Ein banger Blick zurück auf das Haus. Mehr kriechend als lau-fend erreichte sie dichteres Buschwerk, das ihr Schutz gab, bis sie auf die ebene Strecke gelangte, die auf einer Seite von einem kleinen See begrenzt wurde. Auf der anderen Seite war sicher die Auf-fahrt zum Haus mit dem Tor.
Sollte sie zu schwimmen versuchen? Sie war nicht darauf vorbereitet. Von ihrem Zimmer aus hatte sie den See nicht bemerken kön-
nen. Eine gute Schwimmerin war sie ohnehin nicht. Sie wandte sich nach rechts und hörte Keuchen und Trappeln hinter sich.
Dann hatte die Dogge sie erreicht.
»Ganz lieb sein. Ich bin es«, sagte sie leise. Das Wunder geschah.
Das Tier kam nahe heran und schnüffelte wie zufällig an ihr. Es lief um sie herum und blieb still.
Dann Juris Stimme: »Gregorij! Gregorij!« Ein Pfiff. Der Hund
schien kurz zu überlegen, folgte dann aber dem Kommando.
93
Britta sank auf die Knie und verharrte auf allen Vieren. Da teilte sich das Gebüsch. Der Mann, der sie zusammen mit Juri in Empfang genommen hatte, starrte sie an. Er rief etwas, dann war auch Juri zur Stelle. Sie rührte sich nicht. Ein gestelltes Wild.
Beide Männer faßten sie an, zogen sie an den Ellenbogen hoch,
führten sie zum Haus zurück. Gregorij, der Unvermeidliche bei
ihren Demütigungen, rundete die kleine Prozession ab.
Drinnen hielt Juri sie weiter fest, als könne sie fortfliegen oder sich in Luft auflösen. Der andere Mann ging fort und kam nach einer Weile zurück. Sicher hatte er Onkel Kolja informiert und Wei-sungen eingeholt.
Die beiden Männer redeten laut und aufgeregt miteinander. Dann
führte Juri sie zurück in ihr Zimmer. Er war plötzlich sanft und blickte sie traurig an. Sie vermutete, daß er heimlich Mitleid mit ihr hatte. Er würde schon wissen weshalb.
Onkel Kolja bestrafte sie sicher furchtbar, wie die Kinder in Pa-solinis Film ›Salo‹ nach de Sades Roman. Langsam, grausam, töd-
lich.
Der andere Mann trat ein. Sie fesselten sie an das Bett und gingen. Britta wunderte sich nicht, daß man das Todesurteil nicht
gleich vollstreckte. Dafür gab es bestimmt Spielregeln.
Es war vorbei. Sie wünschte, ohnmächtig zu werden, doch statt
dessen überkam sie ein Zustand äußerster Klarheit. Wenn ich dies hier überleben sollte, werde ich weise und ewig dankbar sein. Doch ich werde es nicht überleben.
Die Tür wurde erneut geöffnet. Tatjana trat ein, nun korrekt in ein braunes Kostüm und Stiefel mit flachen Absätzen gekleidet. Bei ihrem Anblick verkrampften sich Brittas Muskeln. Ihr Magen wurde zu einem harten Knoten. Keiner der Männer flößte ihr soviel
Angst ein wie diese Frau.
Männer waren Britta immer entflammbar und über Sex zu pa-
cken erschienen. Diese Einstellung hatte sich im Grunde auch nicht 94
verändert. Eigentlich glaubte sie immer noch, sie könne die Kerle mit ihren sehnsuchtsvollen Schwänzen manipulieren.
Aber daß eine Frau solche Grausamkeiten an einer Geschlechtsge-
nossin verüben konnte, das war unheimlich und schrecklich. An
Brittas Angst änderte auch der etwas lächerliche Anblick nichts, den Tatjana bot. Sie trug in der rechten Hand einen Nachttopf am Henkel, einen klassischen, weißen Nachttopf mit einem Blümchen-muster am oberen Rand.
Sie stellte ihn neben Brittas Bett auf den Boden, richtete dann erst den Blick auf ihr Opfer und sagte mit unverkennbar sächsi-schem Tonfall:
»Wennde mal Bibi musst. Die Männer denken doch an gar nix.«
Britta war höchst überrascht.
»Sie sind Deutsche?!«
»Ja. Wieso?«
»Ich dachte … also, Sie sprechen fließend Russisch … und … na
ja …«
»Mein Verlobter ist Russe. War in Wünsdorf stationiert.«
Britta fragte nicht nach. Nur das Weib nicht reizen. War Wüns-
dorf nicht der große russische
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