Der Tote im Schnee
Platte höher, schaltete jedoch unmittelbar darauf wieder herunter. Das Garen eines Weihnachtsschinkens brauchte eben seine Zeit.
Ola hatte angerufen, aber sie war nicht an den Apparat gegangen. Vielleicht hatte er über den Mord an Hollman sprechen wollen, vielleicht auch über das, was zwischen ihnen vorgefallen war. Es kribbelte in ihrem Unterleib. Sie sehnte sich nach Haver, und ihre Selbstverachtung wuchs. Es verwirrte sie, daß sie sich so unerwartet zu ihrem Kollegen hingezogen fühlte. Seit dem Bruch mit Edvard hatte sie keine Lust mehr auf einen Mann gehabt. Doch, vielleicht schon, aber nicht auf diese Art. Ola war verheiratet. Sie würde es sich niemals gestatten, noch einen Schritt zu machen. Sie hatte sich ausgemalt, daß sie ein wenig flirten, vielleicht sogar ein heimliches und schamloses Verhältnis miteinander anfangen könnten. Dann aber hatte sie diesen Gedanken wieder verworfen, beinahe höhnisch über sich selber gelacht und erkannt, wie unrealistisch und unmoralisch eine solche Beziehung wäre. Wie tief war sie gesunken? Nicht genug, daß er verheiratet und Vater zweier Kinder war, er war auch noch ein Kollege, mit dem sie tagtäglich zusammenarbeitete.
Gegen halb neun rief Berit Jonsson bei ihr an. Sie machte sich Sorgen um Justus. Nach dem Frühstück hatte er ein paar Sachen zusammengesucht, was genau, wußte Berit nicht, aber es war so viel gewesen, daß der Rucksack, in dem er sonst seine Schulbücher verwahrte, voll war. Er hatte ihr nicht gesagt, wo er hin wollte, aber das tat er selten.
Es hatte sie nicht gewundert, daß er so wortkarg gewesen war, bloß sein Gesichtsausdruck hatte ihr Sorge gemacht. Verbissen hatte er Haferflocken mit Sauermilch in sich hineingelöffelt und das Geschirr weggeräumt. Dann war er in sein Zimmer gegangen und eine Viertelstunde später mit dem Rucksack wieder herausgekommen. Er hatte sich verabschiedet und die Wohnung verlassen. Da war es kurz nach acht gewesen.
»Tagelang hat er nur in der Wohnung gehockt, dann geht er plötzlich raus«, sagte Berit, »da stimmt doch was nicht.«
»Treibt er Sport?« erkundigte sich Lindell. »Ich meine, vielleicht hatte er ja seine Sportsachen dabei.«
»Nein.«
»Er wird schon wieder auftauchen.«
»Er hat nicht einmal die Fische gefüttert, noch nicht mal nach ihnen gesehen.«
»Hat Lennart wieder von sich hören lassen?«
»O nein, und falls er herkommen sollte, werfe ich ihn raus.«
»Justus taucht bestimmt wieder auf, machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Lindell.
Berit würde sie wieder anrufen, falls er in den nächsten Stunden nicht nach Hause kommen sollte. Justus hatte das Handy dabei, aber er war nicht rangegangen, als Berit angerufen hatte.
In ein paar Stunden würden Anns Eltern eintreffen. Die Temperatur des Schinkens war gerade mal auf achtundvierzig Grad gestiegen. Lindell starrte teilnahmslos in den Sud, in dem ein paar Pfefferkörner in kreisenden Bewegungen tanzten.
Plötzlich angeekelt, entfernte sie sich vom Herd. Sie hatte daran denken müssen, wie sie sich fühlte, als sie entdeckt hatte, daß sie ein Kind bekommen würde von einem Mann, den sie gar nicht richtig kannte. Die Hebamme hatte Ann erklärt, warum sie schwanger geworden war: Lindell hatte ein Vitaminpräparat genommen, das unter anderem Johanneskraut enthielt, wodurch die Pille unwirksam geworden war.
Warum verachtete sie sich selber so sehr? Lag es daran, daß sie einen Schinken kochte, nur weil ihre Eltern Weihnachten in Uppsala feiern würden? Ohne ihren Besuch wäre Ann das Weihnachtsfest egal gewesen, sie hätte nicht einmal die Wohnung geschmückt. Die Freude über ein Wiedersehen mit den Eltern wurde ihr von der Vorstellung verleidet, als gute Tochter und Mutter auftreten zu müssen.
Sie fürchtete die Blicke und Kommentare ihrer Mutter. Ann glaubte sich zu erinnern, daß ihre Mutter früher nicht so gewesen war. Angesichts der zunehmenden Kränklichkeit und Passivität ihres Vaters schien es für Lindells Mutter mehr und mehr zur Lebensaufgabe zu werden, die Tochter zu kontrollieren. Als Mutter bekam Ann dabei ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Vielleicht bin ich nicht in der Lage, mich um Erik zu kümmern, das auch nicht, dachte sie. Bin ich etwa regelrecht ungeeignet, allein einen Sohn aufzuziehen?
»Denn allein werde ich wohl bleiben«, sagte sie laut.
Sie ging in Eriks Zimmer, stellte sich an sein Bettchen und betrachtete ihn. Er war gesund und entwickelte sich prächtig. Warum sollte sie eine schlechtere
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