Der Tote im Schnee
Mutter sein als andere Frauen? Ann erkannte, daß ihr geringes Selbstvertrauen der Grund für ihre Unsicherheit und die vielen Fragen war.
Das Telefon surrte leise. Sie hatte den Klingelton abgestellt, um Erik nicht zu stören. Es war Berit.
»Er hat ein paar Fische geköpft«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Er hat Fische aus dem Wasser geholt und ihnen den Kopf abgeschnitten.« Berit sog Luft in ihre Lungen, so als wolle sie verhindern, daß ihr ein Schrei entfuhr.
»Heute morgen?«
»Ja, ich habe geglaubt, er hätte die Fische nicht gefüttert, was er aber doch getan hat. Außerdem hat er alle Prinzessinnen herausgeholt und umgebracht. Ich begreife das nicht.«
»Prinzessinnen?«
»Die Art heißt so, Prinzessin von Burundi. Die anderen hat er nicht angerührt.«
»Warum gerade die?«
Berit schluchzte laut auf und begann verzweifelt zu weinen. Lindell versuchte Kontakt zu ihr zu bekommen, hatte jedoch den Eindruck, daß Berit sich vom Telefon entfernt hatte, vielleicht auf einen Stuhl oder zu Boden gesunken war. Ihr Weinen schien jedenfalls aus immer größerer Entfernung zu kommen.
»Ich komme zu Ihnen«, sagte Lindell und legte auf.
Sie sah auf die Uhr, lief zu Erik hinein, setzte ihm eine Mütze auf, wickelte ihn in eine Decke und verließ die Wohnung.
Das Fleischthermometer zeigte sechzig Grad an.
34
Karolina Wittåkers Händedruck war verschwitzt und flüchtig.
»Aber da sieht man mal wieder, wie man sich täuschen kann«, meinte Haver nachher zu Berglund. »Sie hat sofort das Kommando übernommen. Ich habe mich gefühlt wie ein Schuljunge. Sie hat über Persönlichkeitsstörungen doziert und …«
»Was hat sie gesagt?« unterbrach Berglund ihn.
»Wir können weitermachen, aber sie möchte dabei sein.«
»Aha«, sagte Berglund schroff und ging davon.
Haver sah ihm erstaunt nach, zuckte dann mit den Schultern und ging zu Ottosson hinein. Der Kommissariatsleiter saß an seinem Schreibtisch, über das Kreuzworträtsel einer Abendzeitung gebeugt.
»Ich mußte den Kopf mal ein bißchen freibekommen«, sagte er entschuldigend und schob die Zeitung zur Seite.
»Die Psychologin will dabei sein, wenn wir Hahn verhören«, sagte Haver.
»Das läßt sich arrangieren. Macht sie einen guten Eindruck?«
»Das tut sie. Fünfunddreißig, hübsch und sehr, sehr bestimmt.«
»Aha, so eine«, meinte Ottosson und lächelte. »Das wird schon klappen.«
»Was ist eigentlich mit Berglund los?«
»Ist was mit ihm los? Meinst du das, was er bei der Lagebesprechung gesagt hat?«
»Er ist so verdammt schroff«, sagte Haver.
»Das sind wir doch alle im Moment. Außerdem ist bald Weihnachten. Für Berglund ist das eine heilige Zeit, in der er seinen Familienclan um sich schart und gut ißt, Puzzles legt und Gott weiß was macht. Ich bin wenigen Menschen begegnet, die so viel Sinn für Familie und Bräuche haben. Er wäre jetzt am liebsten zu Hause, würde Plätzchen backen und Weihnachtsschmuck aufhängen.«
Haver mußte lachen. Ottosson sah ihn freundlich an.
»Du schaffst das schon«, sagte er, »aber vergiß nicht, daß Hahn krank ist. Er hat einen von uns erstochen, doch er ist auch ein verletzter Mensch. Verletzt und Mensch.«
In Ola Haver regten sich gemischte Gefühle. Die herzlichen Worte und das Vertrauen des Kommissariatsleiters taten ihm gut, gleichzeitig war er jedoch auch wütend über dessen verständnisvolle Haltung einem Doppelmörder gegenüber. So war Ottosson eben, verständnisvoll und sanft, das machte ihn zu einem guten Chef, aber im Moment dominierten Trauer und Wut im Präsidium.
»Janne hatte eine Frau und zwei Kinder«, erklärte Haver ungerührt.
»Das ist mir durchaus bewußt«, meinte Ottosson ruhig, »aber es ist nicht unsere Aufgabe zu richten.«
Was ist das für ein Seelsorgergewäsch, dachte Haver.
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, fuhr Ottosson fort, »aber vor langer Zeit waren sowohl der kleine John als auch Vincent Arnold Hahn einmal Kinder. Du weißt schon, kleine Jungs, wie man sie auf der Straße sieht. Ich mußte letzten Herbst daran denken, als die Schule wieder anfing. Ich sah die kleinen Jungen am Straßenrand mit ihren Rucksäcken und kurzen Hosen und dachte: Hier geht sicher auch ein zukünftiger Dieb, jemand, der seine Frau mißhandeln wird, ein Drogensüchtiger oder Dealer. Verstehst du, was ich meine?«
»Nicht richtig«, sagte Haver.
»Sie waren auf dem Weg in die Schule, auf dem Weg ins Leben. Was tun wir mit ihnen?«
»Du meinst, daß es ihnen
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