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Der Tote im Schnee

Der Tote im Schnee

Titel: Der Tote im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Eriksson
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hier wird ihr den Rest geben. John ist doch immer ihr Liebling gewesen, seit Margareta gestorben ist.«
    Die kleine Schwester der beiden Brüder war 1968 gestorben, als sie unter einen Getränkelaster vor dem Supermarkt auf der Väderkvarnsgatan geriet. Sie war ein Thema, das von den Brüdern tunlichst vermieden wurde. Ihr Name wurde nie genannt, Fotos, auf denen sie zu sehen war, wurden in die hinterste Schublade geräumt.
    Manche Leute behaupteten, Aina und Albin hätten sich niemals vom Verlust ihrer Tochter erholt. Einige deuteten sogar an, Albin hätte sich das Leben genommen, als er an jenem Aprilmorgen Anfang der siebziger Jahre auf dem Dach des Skytteanums neben dem Dom ausrutschte. Andere, vor allem seine Arbeitskollegen im Betrieb, meinten hingegen, er habe das Sicherungsseil nicht ordentlich festgemacht und auf den glatten Dachblechen keinen Halt gefunden.
    Albin hätte sich niemals das Leben genommen, und selbst wenn es seine Absicht gewesen wäre, seinem Leben ein Ende zu setzen, hätte er dies definitiv nicht während der Arbeitszeit getan, von einem Dach aus, einem Blechdach. Dennoch fiel die Ungewißheit in dieser Frage wie ein Schatten über die Familie, deren Mitglieder auch nach Albins Tod stets nur »die Dachdecker« genannt wurden.
    »Aber ich habe nicht viel mit ihr geredet«, gab Lennart zu.
    Er stand auf, und Micke dachte, daß er sich ein neues Bier aus dem Kühlschrank holen wollte, doch Lennart trat statt dessen ans Fenster.
    »Hast du John gesehen, als er ging? Ich meine, hast du rausgeguckt?«
    »Nein«, sagte Micke, »ich bin auf der Couch geblieben und habe Jeopardy geguckt.«
    »Erinnerst du dich noch an Teodor?«
    »Du meinst Teodor zu Hause? Natürlich.«
    »Ich denke manchmal an ihn. Er hat sich um John und mich gekümmert, als mein Vater gestorben war, hat uns Arbeit gegeben.«
    »Erinnerst du dich, wenn wir Murmeln gespielt haben?« fragte Micke und lächelte. »Er war phänomenal.«
    »John mochte er am liebsten.«
    »Er hat doch allen geholfen.«
    »Aber John am meisten.«
    »Wahrscheinlich, weil er der Kleinste war«, sagte Micke.
    »Stell dir vor, wir hätten Lehrer gehabt wie Teodor«, meinte Lennart.
    Micke fragte sich, warum Lennart an diese weit zurückliegende Zeit dachte. Johns Tod ließ offenbar die Erinnerung an die gemeinsame Kindheit der Brüder in Almtuna lebendig werden, und dann gab es niemanden, der sich besser dazu geeignet hätte, Erinnerungen auszutauschen, als Micke, der begriff, daß es für Lennart lebensnotwendig war, an die Geborgenheit der frühen Kindheit zurückdenken zu können. Auch Micke hatte nichts dagegen, sich an die kinderreichen Höfe, die Bandyspiele auf dem Eis von Fålhagen und die Leichtathletikwettkämpfe in Österängen zu erinnern.
    Es war die beste Zeit unseres Lebens, dachte Micke oft, und er ahnte, daß dies in noch größerem Maße für Lennart galt. Der Kindheit schlossen sich fast nur noch Teufeleien an, angefangen mit der Vaksalaschule, dieser quälenden Anstalt.
    Lennart war in die Sonderklasse für auffällige Schüler gekommen, er hatte »Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen«, und dort fiel er in die Klauen des Steingesichts, dessen Unterricht zu folgen wiederum nicht sonderlich schwer war. Er bestand vor allem aus Tischtennis. Durch zahllose Partien gegen Teodor im Heizungskeller war Lennart ein guter Spieler geworden. Er war so gut, daß er das Steingesicht Spiel um Spiel schlug.
    Während Teodor die Tür zum Erwachsenendasein mit dem breiten Gefühlsregister aufstieß, zu dem der schnell gerührte Hausmeister fähig war, bleute das Steingesicht den Schülern hart und schonungslos seine spezielle Lebensweisheit ein.
    Daraufhin blieb Lennart dem Unterricht fern. Er streikte. Oder schlug zurück. In der neunten verschwand er immer öfter aus der Schule, die ihm nicht mehr vermittelt hatte als unzureichende Kenntnisse in Lesen und Schreiben. Von Geschichte hatte er keine Ahnung, Mathematik löste bei ihm rasende Wut aus, und im Werkunterricht lief er regelmäßig davon.
    Die Billardhalle im »Sivia«, das Restaurant Lucullus, in dem die ersten Pizzen in der Stadt serviert wurden, und der Hügel waren die Alternativen, die Lennart für sich sah. Er stahl, um zu leben, um Billard und Flipper spielen, Zigaretten und Limonade kaufen zu können. Er stahl, um anderen zu imponieren, und prügelte sich, um Angst zu verbreiten. Wurde er schon nicht geliebt, konnte er auch gleich gehaßt werden, schien er zu denken.
    Er klagte

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