Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tote trägt Hut

Der Tote trägt Hut

Titel: Der Tote trägt Hut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
Vom Netzwerk:
nein! Ich habe nur die Köpfe nicht mehr abgeschnitten. Schließlich war es wochenlang das große Geheimnis. Da kann man die Leute doch nicht einfach so in der Luft hängen lassen, oder?«
    Es war egal, ob die Geschichte stimmte oder nicht. Wie die meisten von Mairs Märchen würdigten wir sie als Kunstwerk. Ich stand an der Spüle und wusch ab, als Mair hinter mich trat und ihre Arme um mich schlang. Ich spürte sie gern so nah. Ich musste mich direkt daran erinnern, dass ich nicht gut auf sie zu sprechen war.
    »Das war ein sehr gutes Abendessen, mein Kind«, sagte sie. »Ich weiß nicht, woher du dein Talent hast. Von mir jedenfalls nicht.«
    »Mit frischem Gemüse schmeckt alles gut.«
    Ich klang wie aus der Fernsehwerbung, aber es stimmte. Zu den wenigen Vorteilen des Lebens abseits der Zivilisation gehörte, dass man seine Lebensmittel kaufen konnte, bevor die Chemielabore sie in die Finger bekamen. Noch vor ein paar Stunden schwamm unser Abendessen selig seine Runden in einem weitgehend unverschmutzten Meer, und der Chili wuchs hier überall wie Unkraut. Die Eier waren noch warm vom … na ja, man weiß ja, woher Eier kommen. Und man konnte einfach aus dem Fenster langen und eine Papaya pflücken. Ich hatte einen kleinen, geschützten Garten, in dem man eines Tages vielleicht Gemüse ernten würde. Und wenn man dann autark war, wusste man genau, woher das alles kam, was man auf dem Teller hatte. Was man von der Plastikschale, auf die ich im Tiefkühlfach gestoßen war, nicht behaupten konnte.
    »Mair, was war diese eintopfähnliche Substanz, die ich im Kühlschrank gefunden habe?«
    »Ich weiß gar nicht, was du meinst«, sagte sie, und ich kam ins Grübeln.
    »Dieses trübe grau-grüne Zeug, das wie geschmolzene Eiscreme aussieht.«
    »Rühr das nicht an!«, sagte sie und befreite mich aus ihrer mütterlichen Umarmung. »Das ist eine Brühe, die mir die Frau an der Tanksäule heute gegeben hat. Ich soll sie mal probieren.«
    »Wir könnten sie morgen Abend essen.«
    »Nein. Nein, lieber nicht. Die Frau ist eine fürchterliche Köchin. Ich habe die Brühe nur aus Höflichkeit angenommen.«
    Und damit überließ sie mich dem Abwasch. Als alles sauber und verstaut war, ging ich zum Strand hinunter. Gogo folgte mir mit zwanzig Metern Abstand. Falls der Mond so voll war, wie der Kalender es versprach, dann waren die Wolken so dicht, dass man davon nichts sah. Opa Jah hatte recht. Die Lichter der Fischerboote bildeten draußen auf dem Meer eine glitzernde Kette. Es war, als sähe man das gegenüberliegende Ufer eines breiten Flusses. Ich lief durch den tiefen Sand, bis ich zu einem von Arnys Baumstämmen kam. Ich setzte mich, lehnte mich an und bewunderte die grünen und weißen Katzenaugen, die mir vom Horizont her zuzwinkerten. Gogo schlurfte an mir vorbei, drehte sich zweimal, dann legte sie sich in den Sand, mit dem Rücken zu mir. Sie war etwa zwei Meter entfernt. Wie üblich tat sie, als wäre ich gar nicht da. Ich weiß ehrlich nicht, wer von uns beiden überraschter war, als ich zu ihr hinüberkroch und sie tätschelte – zweimal. Sie reagierte nicht. Es war egal. Ich machte es nur für den Fall, dass sie am nächsten Morgen mit Schaum vor dem Maul auftauchte. Wenigstens hätte sie dann einen kurzen Augenblick der Intimität gehabt, auf dem mein Name stand.
    Schon früh während meiner Deportation in diesen farblosen Zirkus war mir aufgefallen, dass ich mich langsam in eine traditionelle Thailänderin verwandelte, mich rückentwickelte bis in die Zeit vor Kabel und Cappuccino. Ich suchte mich in einem dieser alten »Thailand Verstehen«-Bücher für Ausländer. Warum, so fragte ich mich, waren diese Bücher eigentlich immer von Männern aus dem Westen, meist Briten, verfasst, die uns besser zu kennen meinten, als wir uns selbst?
    Ich kannte die Leute in diesen Büchern nicht. Ich sah nie wie eine dieser liebenswerten Frauen auf den Bildern aus. Letztes Jahr hätte ich noch keine einzige Erwähnung meiner selbst gefunden. Ich wurde in eine Zeit hineingeboren, die unsere Kultur zunehmend gefriertrocknet und schrumpfverpackt und sie durch westliche und östliche Einflüsse entstellt hatte. Als ich aufwuchs, kleidete ich mich wie Winona Ryder und hörte Bon Jovi. Meine Mutter war Beatles-Fan. Die Tochter meiner Cousine zweiten Grades ist vierzehn. Sie hat hellbraun gefärbte Haare, die vom Kopf abstehen wie im Comic, und sie trägt ihre Jeans weit unterhalb des Bauchnabels. Ihre Helden sind allesamt Koreaner.

Weitere Kostenlose Bücher