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Der Tote trägt Hut

Der Tote trägt Hut

Titel: Der Tote trägt Hut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Cotterill
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Moment an Mair. Sie ließ den Schirm sinken, faltete ihn zusammen und gab ihn mir.
    »Warten Sie ein paar Sekunden, dann folgen Sie mir«, sagte sie und lief den Pfad hinunter.
    Es schien mir ein sonderbarer Wunsch zu sein, doch ich tat, was man mir sagte. Erst einer der Hunde, dann noch einer blickte zu mir auf, zum Schirm in meiner Hand. Dann hinüber zum Rücken der Nonne. Dann wieder zu mir. Und plötzlich stand ich mitten in einer Löwengrube. Zähne und Sabber und wildes Geheul und gemeinschaftlicher Zorn, der mir eine Heidenangst einjagte. Am liebsten hätte ich den Schirm weggeworfen und wäre gerannt, doch die Nonne drehte um, kam zurück und nahm die vermeintliche Waffe wieder an sich. Die Hunde steckten ihren Koller weg wie Cowboys ihre Revolver, und trabten träge weiter.
    »Ihr Beschützerinstinkt uns gegenüber ist sehr ausgeprägt«, sagte sie.

Kapitel 5
    »Ich weiß, wie schwer es ist, seine Familie zu verfüttern.«
    George W. Bush
    Greater Nashua, NH, Chamber of Commerce, 27. Januar 2000
    E s war Montag, der 17. Juni 1978«, begann Mair. »Da wurde ich zum zweiten Mal entjungfert.«
    Arny und ich blickten von unserem Bratreis mit Tintenfisch auf, die Löffel auf halbem Weg zum Mund. Opa Jah aß weiter, entweder weil er das alles schon mal gehört oder weil er es diesmal nicht mitbekommen hatte. Ich war nicht sicher, ob ich Mair weiter zuhören wollte – nicht beim Abendessen.
    »Ich war heute noch mal im Tempel«, sagte ich. Es war das Erste, was mir in den Sinn kann. Eigentlich hatte ich keine Neuigkeiten über meine diskreten Ermittlungen preisgeben wollen, doch der Augenblick schien mir passend.
    »Sein Name war Krit«, fuhr Mair fort.
    »Wieso hast du nichts gesagt?«, fragte Arny. »Ich hätte dich hinbringen können.«
    »Weil ich dachte, es fällt nicht so auf, wenn ich mit dem Fahrrad komme. Und guck mal! Ich hab jetzt schon ein Kilo abgenommen. Dabei fahre ich erst seit einer Woche. Wenn ich einen Monat so weitermache, kann ich Bikinis vorführen.«
    »Er sah sehr gut aus«, sagte Mair.
    Als wir jünger waren, ließen wir Mair mit ihren Geschichten die lange Leine. Wir reisten mit ihr in ihre verworrene Vergangenheit. Oft verliefen die Erzählungen im Sande und starben ohne Pointe oder Sinn und Zweck, doch wir ermutigten sie in der Hoffnung, dass sie eines Tages unseren Vater erwähnen würde. Was sie jedoch nie tat.
    »Mair, ich erzähle hier eine wahre Geschichte«, sagte ich. »Warte einen Moment.«
    Ich hoffte, ich konnte sie so lange ablenken, dass sie die Anekdote ihrer zweiten Entjungferung vergaß. Ich erzählte ihnen vom Angriff auf den Wachmann und der Verhaftung des Abts und den Hunden und dem Feuerzeug. Arny lauschte mir wie immer gebannt. Mair wartete geduldig auf eine Lücke.
    Dann nahm Opa Jah einen Schluck Wasser, sah mir plötzlich tief in die Augen, als wolle er mich verfluchen, und sagte: »Er hat etwas gesucht.«
    Opa Jah war vierzig Jahre bei der Königlich-Thailändischen Polizei gewesen und nie über den Rang eines Corporals bei der Verkehrsstaffel hinausgekommen. Schon oft hatte ich gedacht, dass es Leute gab, die von Natur aus Polizisten waren, die aufstiegen und ihre Prüfungen ablegten und auf einem Posten landeten, der einen Flügelschlag über ihren Fähigkeiten lag. Dann gab es welche, die Geld hatten und sich ihre Beförderungen erkaufen konnten. Und schließlich gab es Leute wie Opa Jah, die keine Ahnung von irgendwas hatten. Als könnte ich einen Rat von einem Verkehrspolizisten brauchen …
    »Wer hat was gesucht?«, fragte ich, nur um die seltene Gelegenheit einer Unterhaltung mit meinem Großvater zu nutzen.
    »Der Mörder von Abt Winai«, sagte er.
    Natürlich hatte ich die Möglichkeit bereits bedacht. Wären wir hier in einem Kriminalroman, würden sämtliche Leser, selbst die unterbelichtetsten rufen: »ER HAT ETWAS GESUCHT.« Danke, Opa.
    »Nun, falls er gefunden hat, was er suchte, werden wir nie erfahren, was es war«, sagte ich. Ende der Geschichte.
    »Vielleicht hatten sie Videokameras«, sagte Arny, von Haus aus nicht der Scharfsinnigste unseres Wurfs. Er meinte, wir lebten in einer Welt, in der jede Straße, jedes Haus, jeder Baum von Kameras gesichert wurde. Jedes Verbrechen ließ sich aufklären, man musste nur die Bänder abspielen – so wie in England.
    »Arny, kleiner Bruder, ich …«
    »Hat er nicht.«
    Opa nervte langsam.
    »Hat was nicht, Opa?«
    »Er hat nicht gefunden, wonach er suchte.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Gestern

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