Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
dörflicher Gemeinsamkeit, in die gelegentlich auch Besucher aus anderen Vierteln einbezogen wurden.
Wie Livia erfuhr, hatte die Großtante mindestens zehn Kanarienvögel, war steinreich, schwerhörig und schlecht zu Fuß. Dreimal pro Woche kam eine Putzfrau. Ihren Großneffen, den einzigen noch lebenden Verwandten, der auf so mysteriöse Weise ums Leben gekommen war, hatte sie vergöttert. Sofort kam die Sprache auf die vielen Affären des Großneffen, eine weitere Kundin, die den Laden betreten hatte, fand es richtig, auch den Geliebten Geld zu vermachen, jedoch falsch, überhaupt welche zu haben. Die arme Witwe. Jetzt auch noch das. Verständlich, daß sie der Großtante jetzt täglich einen Besuch abstatte – beide hatten Trost bitter nötig. In der Not halten die Frauen eben zusammen, hieß es, und: Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Der vergötterte Umberto hingegen habe seiner Großtante höchstens zweimal im Jahr die Ehre erwiesen, zu ihrem Namenstag und zu Weihnachten. Ja, so sei das immer, diejenigen, die man liebt, kümmern sich nicht um einen, und alle anderen kommen ungefragt. Aber was soll’s, man muß zufrieden sein mit dem, was man bekommt. Drei nickende Köpfe, man war sich einig. Livia verabschiedete sich, bevor die Rede auf das Sonntagsessen und die eigenen Kinder kam und sie passen mußte.
Die Freundinnen warteten eine gute Stunde, schlenderten in der sich mit Leuten füllenden Straße von Schaufenster zu Schaufenster, doch weder das blaue Auto noch Fiorilla oder Agnese di Napoli verließen den Palazzo. Sie beratschlagten, ob es überhaupt sinnvoll sei zu warten. Sie konnten Fiorilla und Agnese ja nicht vierundzwanzig Stunden lang beschatten. Schließlich waren sie nur zu zweit. Sie harrten eine weitere halbe Stunde vor dem Palazzo aus, beschlossen dann, sobald wie möglich der alten Dame, sofern diese sie überhaupt empfangen würde, einen persönlichen Besuch abzustatten und gaben vorläufig auf. Es war bereits spät, sie mußten noch nach Hause, sich umziehen, in einer Stunde erwarteten sie Jean und den französischen Bildhauer, und abends waren sie auf Robertos Geburtstagsfest eingeladen.
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Roberto Mazzacane wohnte direkt an der Piazza dei Martiri – ein Katzensprung von Livias Wohnung in den Quartieri, und doch war es eine völlig andere Welt. An der Piazza hing keine Wäsche zwischen den Baikonen, statt der ebenerdigen Einzimmerwohnungen gab es rundum hochkarätige Boutiquen namhafter Modemacher, und im Café schob man für einen Espresso mindestens zweitausend Lire über den Tresen. Die Männer standen, gewichtig ins Gespräch vertieft, mit tragbaren Telefonen neben ihren Luxusschlitten, die Frauen trugen keine Kittelkleider, sondern Kostüme und waren überwiegend blond – künstlich vom Scheitel bis zur Sohle, wie Livia fand.
Ähnliches Publikum stand sich in der Wohnung Robertos die Beine in den Bauch. In der Hand das Glas Prosecco, Kellner in blütenweißen Hemden und Fliegenlächeln reichten Häppchen auf Silbertabletts: Lachs, Kaviar, Parmaschinken, Meeresfrüchte. Wer wollte, konnte sich auch selbst bedienen, es gab Vorspeisen aller Art, eine gigantische Käseabteilung, ein ganzer Tisch mit Cremespeisen, Törtchen und Obst.
»Ich bin schon vom Zuschauen satt«, flüsterte Rosaria Livia zur Begrüßung ins Ohr und verschwand in einem Nebenzimmer. Livia war zum ersten Mal bei ihrem Chef eingeladen. Eine riesige, zweistöckige Wohnung in den obersten Stockwerken eines neuen Palazzo, weitläufige Terrasse mit Blick auf die Bucht und den Hafen von Mergellina, teure, geschmackvolle Einrichtung, im Flur eine Zeichnung von Stradone und eine weitere von Mascherini, die Livia sofort bewundert hatte, und im Salotto zwei Originale von Guttuso, was bewies, daß Roberto nicht nur Kunstmacher, sondern auch Kunstkenner war. Zu allem Überfluß stand die Wohnung auch noch einen Großteil des Jahres leer, da die Töchter auswärts studierten, Roberto viel auf Reisen war und seine Frau es vorzog, auf Capri zu residieren.
Von wegen »kleine Geburtstagsfeier« – es waren alle gekommen, die in Sachen Kultur in Neapel einen Namen zu machen, zu verteidigen oder zu verlieren hatten: die oberste Riege sämtlicher Museen und Kunstsammlungen, Vertreter der Parteien und der Gewerkschaften, Leute von der Presse und aus der Kunstszene. Ein Fotograf schlich auf Turnschuhen durch die Räume und schoß Fotos für eine kleine Stippvisite in das gesellschaftliche Leben der Stadt: neapolitanische Adlige,
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