Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Schaurige Atmosphäre.«
»Oder es lebt noch, nur der Kopf erblickt bereits das Jenseits«, erwiderte Livia.
»Oder den Innenhof des Palazzo Carafa«, sagte Marlen launig.
Die Gruppe war bereits in den nächsten Gang eingebogen. Die ersten Ahs und Ohs, dann ein allgemeiner Aufschrei. Marlen dachte entsetzt, jetzt haben sie das Lager mit den gestohlenen Kunstwerken gefunden, irgendwo hier unten muß es ja sein. Aber die Kunsträuber würden nicht so dumm sein, sich ein Versteck mitten unter den Quartieri Spagnoli zu suchen, wo, wie auch Agnese di Napoli wußte, regelmäßig Führungen der LAES stattfanden, sondern irgendwo im Abseits, wo keine Freizeitarchäologen herumgeisterten. Es würde verdammt schwer werden, dieses Lager überhaupt zu finden – sofern es nicht nur in ihren Köpfen existierte. Ihr fiel der doppelte Stadtplan in Salvatores Zimmer ein. Und wenn sie die Signora delle Donne bezirzen würde, ihr diesen Plan auszuleihen, nur für einen Nachmittag? Womöglich hatte Salvatore – sofern er zu dieser Viererbande gehörte – verzeichnet, wo sich dieses Lager befand? » Ammirabile !« rief jemand.
Von einem sich drehenden Projektor wurden blaugetönte Dias an die vier Wände des Raums geworfen. Die rauhe, leicht rissige Struktur der Wände verwandelte das Licht in Wasser. Dazu hörte man das Plätschern einer Quelle, das seichte Heranrollen von Wellen, Riesenbrecher im Ozean, laufende Wasserhähne und andere Geräusche, die etwas mit dem feuchten Element zu tun hatten. Als auch Marlen und Livia sich mit den letzten Teilnehmern in den Raum gedrängt hatten, hörten sie Dr. Blasio gerade noch sagen: »… das Aquädukt führte weiter bis zur Piscina Mirabile in Capo Miseno. Mirabile nach Petrarca, der 1340 bei einer Besichtigung mehrfach ammirabile! , bewundernswert, ausgerufen und seinen Namen somit auch in der Geschichte der Wasserleitungen verewigt hat.«
Gelächter. Blasio räusperte sich. Das Gelächter verebbte. »Mit der großen Bevölkerungsdichte und dem Ausbau der Stadt im 17. Jahrhundert wurden die offenen unterirdischen Gräben und stollenartigen Gänge leider zu einem ernsten Problem. 1884 brach die Cholera aus, weil höherliegende Brunnen das Wasser des Aquädukts verseucht hatten. Ab 1885 wurde der Bau einer neuen, geschlossenen Wasserleitung begonnen. Vielleicht wußten Sie schon«, fuhr Blasio nach einer kurzen Pause fort, »daß Neapel früher in fünf Bezirke unterteilt und jeder Bezirk wiederum einem pozzaro unterstellt war. Ohne den lief nichts. Wer waren nun die pozzari ? Das waren die Brunnenverwalter, zuständig für die Erhaltung und Überprüfung der parthenopeischen Brunnen. Sie sorgten dafür, daß das Wasser sauber blieb und die unterirdischen Kanäle nicht verstopften. Schmutziges Wasser bedeutete, wie man am Beispiel der Cholera sieht, eine große Gefahr für die ganze Stadt. Die pozzari – übrigens ein Erbberuf – waren einflußreich und mächtig. Sie sandten besondere Botschaften aus: Dunkles Brunnenwasser zum Beispiel galt als unmißverständlicher Hinweis an die Bewohner der darüberliegenden Palazzi, daß es wieder einmal an der Zeit sei zu zahlen.« Blasio machte eine erneute Pause, die Zeit ließ für naheliegende Assoziationen in die Gegenwart. »Die pozzari wurden jedoch auch als segensreicher Glücksbringer betrachtet, als benedizione di casa , wenn sie in die Häuser hochgeklettert kamen, auf eisernen, in die Brunnenwände geschlagenen Stufen, die wir später noch sehen werden. Vielleicht ist Ihnen auf dem Weg hier herunter ein Symbol auf gefallen: ein gleichschenkliges Dreieck und auf der Verlängerung der nach oben weisenden Spitze des Dreiecks ein Kreuz, und ganz oben ein Stern: das war das Symbol des in diesem Viertel herrschenden pozzaro .«
Weiter ging es, von einer Etappe des Spektakels zur nächsten, untermalt von Informationen und Anekdoten des Dr. Blasio sowie von Kommentaren der Teilnehmer. Immer drehte es sich um Leben und Überleben in Neapel. Jedes Kunstwerk hatte eine bestimmte Bedeutung im Gesamtensemble des Spektakels. Jeder wollte möglichst schnell sehen, was als nächstes geboten war, wurde aber, sobald er oder sie vor dem Kunstwerk stand, wiederum energisch weitergeschoben. Blasio hatte sich neben einer Collage aus Wegwerfprodukten aufgebaut, nach zwei vergeblichen Anläufen aber auf jede weitere seiner wortreichen Untermalungen verzichtet. Es roch inzwischen nicht mehr nach modrigen Ausdünstungen der Erde, sondern nach Mensch.
Die
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