Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
nächste Etappe war mit »Lebensräume« betitelt. Es handelte sich um die unterirdischen Räume, die den Bewohnern vor über vierzig Jahren während der Bombardierungen der Stadt Schutz gewährt hatten, um Wohnräume, Liebesräume zu schaffen, durch schnell hochgemauerte Trennwände Aborte, Ecken für festliche Akte wie Taufe oder Heirat. Die Künstlerinnen, eine Gruppe von Frauen aus Mailand, hatten die ursprünglichen Wandbemalungen belassen und dezent durch spärlich in den Räumen verteilte Objekte unterstrichen. Blasio wies auf die unzähligen Graffitis hin: Tänzerinnen, Frauen, Geschlechtsteile, der erste Minirock, ein chinesisch aussehender Koch, Hitler, Mussolini, Hirohito, De Gaulle, Churchill mit einer dicken Zigarre, ein U-Boot, das im Golf von Neapel zerstört worden war, und zwar vom eigenen Militär, wie Blasio erläuterte, weil der Kommandant beim Auftauchen vergessen hatte, die italienische Flagge zu hissen. Weitere Boote, Flugzeuge, Beischlafszenen. Die Wünsche, Sehnsüchte und Ängste der Schutz suchenden Menschen waren hier unten in den Tuff geschrieben.
Das Spektakel – eine seltsame Mischung aus Kunst, Kitsch und Überlebensmoral, wie Jean fand – näherte sich dem Ende. Zwei Etappen standen noch bevor. Süßlich-modriger Gestank breitete sich nun aus, wurde intensiver, Taschentücher wurden unter Nasen gepreßt, selbst Blasio hatte es die Sprache verschlagen. Die Gruppe gelangte zu einem künstlich errichteten, jedoch durch und durch natürlich stinkenden Müllhaufen, um den herum m einem Kreis – beinahe faustisch – offene Parfümprobefläschchen aufgestellt waren: eine tödliche Mischung, deren Bedeutung nicht weiter erläutert werden mußte. Ein zweiter Kreis wurde von weggeworfenen Heroinspritzen gebildet, ein dritter von schmutzigen, abgenutzten Eintausendlirescheinen, die in den Erdboden genagelt waren.
»Der dritte Kreis der Hölle«, kommentierte Blasio.
»Einmal quer durch die menschliche Kloake«, sagte eine andere männliche Stimme.
Erst als alle Teilnehmer sich aus der binnen kurzem unerträglich werdenden Moderzone in einen weitläufigen hohen Raum gerettet hatten, spulte Blasio sein Sprüchlein ab: Die wirkliche Ruinierung der unterirdischen Stadt habe im wesentlichen erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen, seit die Brunnenlöcher zur sorglosen Entsorgung von Trümmern, Schutt und Abfällen jeglicher Art entfremdet wurden. »Am achten November 1979 wurde am Corso Amedeo di Savoia ein unterirdischer Hohlraum entdeckt, ein pozzo nero , ein ehemaliger, nichtoffizieller Brunnen, der von sechzehn neuen Gebäuden als Kloake benutzt worden war. Am vierzehnten Dezember 1983 starb ein fünfjähriges Kind im Vico San Mandato in einem Brunnen, den jemand illegal geöffnet hatte, um sich des Bauschutts des gerade renovierten Hauses auf bequeme Weise zu entledigen. Das Kind fiel dreißig Meter tief.«
Blasio ließ die Information wirken, betroffenes Geraune war zu vernehmen. »Auf diese Weise«, schloß er dann, »wurde das unterirdische System, in dem man noch bis zum Beginn der vierziger Jahre von einem Ende Neapels bis zum anderen gelangen konnte, relativ schnell zerstört, und zwar von den Neapolitanern selbst. Und der Zerstörung der Stadt sowie ihrer Wiederauferstehung ist die letzte Etappe dieses Spektakels gewidmet.« Man hörte einige der Teilnehmer aufatmen.
Es konnte sich bei dieser letzten Etappe, so befürchteten Livia und Marlen, nur um den schon anfangs erwähnten Phoenix samt dazugehöriger Asche handeln. Die beiden Frauen sowie Jean und Claude hatten sich mittlerweile ins erste Drittel der Gruppe vorgedrängelt und bogen nun um die nächste Ecke. Das Gemälde des mexikanischen Künstlers, das wie vermutet einen grünen, punkähnlich gestalteten, aus orangegefärbter Asche aufsteigenden Vogel Phoenix zeigte, war hell an- gestrahlt und nicht zu übersehen. Unter dem Gemälde lag, als sei er aus dem Bild herausgefallen, ein Mann. Die Gruppe näherte sich. Einige Teilnehmer kicherten. Schließlich hatten sie schon ein in die Wand gelaufenes Pferd gesehen. Dr. Blasio, der als erster erkannte, daß dieser Mann nicht Teil des Kunstwerkes des Mexikaners war, runzelte die Stirn. Marlen, die näher herangetreten war, schrie auf.
Die Nachricht breitete sich schlagartig unter den nach vorn drängenden Teilnehmern aus: Der Mann, der dort lag, war keine Attrappe, sondern ein wirklicher Toter. Nur Livia hatte verstanden, was Marlen ihr entsetzt und mit aufgerissenen Augen
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