Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
taufrischen Überlegungen. Gleichzeitig war klar, daß sie bei dieser Veranstaltung kaum etwas würden auskundschaften können. Sie überlegten, wie sie – unabhängig von diesem Spektakel – selbst unter die Erde gelangen konnten, um sich nach dem vermuteten unterirdischen Lager umzusehen.
Sicherlich konnte Roberto als Mitveranstalter ihnen Zugang verschaffen, was jedoch nicht in Frage kam, weil er Fiorilla kannte, die wiederum mittlerweile wußte, daß Livia bei der Dokumentation Kunstdiebstahl arbeitete. Sie mußten vorsichtig sein, durften kein noch so geringes Risiko eingehen. Livia überlegte, sie könnte Jean vorschicken unter dem Vorwand, Claude wolle sich die Ausstellung einmal in aller Ruhe und alleine ansehen. Weiterhin gab es die Möglichkeit, daß Marlen erneut Carmine von der LAES ansprach. Doch Livia hielt es für unwahrscheinlich, daß er zwei Frauen allein, ganz ohne Begleitung, in die unterirdischen Gänge lassen würde. Es würde diesmal ja auch nicht ungefährlich sein, in die dunklen Gänge tief unter der Erdoberfläche einzudringen, wandte Marlen ein. Sie einigten sich, daß die Treppe im Haus der Großtante Umbertos zwar am vielversprechendsten war, weil das Lager vermutlich nicht allzu weit entfernt war – aber auch am gefährlichsten. Am naheliegendsten erschien ihnen der Vorschlag, den die Mutter der Tabakfrau am Nachmittag gemacht hatte: Es vom Tabakladen aus zu versuchen.
Es klingelte. Vor der Tür standen Jean und Claude, die gekommen waren, um die Frauen abzuholen. Treffpunkt war eine Piazzetta in den Quartieri Spagnoli, die von einem völlig entkernten, vor sich hin rostenden Autowrack eines ehemaligen Fiat 500 beherrscht wurde. Wie Livia sich erinnerte, hatte hier auch die Führung der LAES begonnen. Sie und Marlen begrüßten Carmine und Vittorio. In einer Gruppe von etwa fünfzig Personen begann der Abstieg in die Unterwelt.
Die Treppe, die in die Eingeweide der Stadt führte, war schmaler und steiler als die, die Marlen und Salvatore genommen hatten.
»Wurde da unten nicht vor kurzem dieser Tote gefunden?« sagte ein Mann aufgekratzt wie ein abenteuerlustiger Junge zu einem anderen.
Eine Frau, die ihn gehört hatte, flüsterte kichernd: »Es liegt was in der Gruft.«
»Der Schatten eines Toten«, kommentierte ihr Begleiter sachlich.
»Die Schatten vieler Toter«, sagte ein anderer lehrmeisterhaft, »angefangen bei den Griechen und Römern bis hin zu den christlichen Märtyrern, um hier einmal an unsere Geschichte zu erinnern.«
Unten angekommen, wartete man in einem weitläufigen, sich trapezförmig nach oben verengenden Raum auf den Beginn der Vorstellung. Mäntel und Jacken konnten an zu Garderobenhaken umfunktionierten Isolatoren aus hellem Porzellan aufgehängt werden. Ein Spektakel nur für Eingeweihte, wie Livia wußte. Für die erste Garde aller, die rund um die Kunst werkelten oder stichelten, Presse inklusive. Marlen erkannte unter den Anwesenden einige Gäste vom Vorabend, natürlich auch Roberto selbst, der als Initiator des Kunstspektakels als erster eine Rede halten mußte und nach seinem rauschenden Fest verständlicherweise ein wenig mitgenommen wirkte.
Sogar Giorgio war gekommen. Marlen fragte ihn, bevor das Spektakel los ging, halblaut, ob es Neuigkeiten gebe. Er schüttelte den Kopf. »Sprich mich bloß nicht darauf an«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Die blocken doch alle ab. Da kann ich mir hundert Jahre lang die Hörner abstoßen. Und wie sieht es bei euch aus? Die Sache mit dem Testament müßte dir doch ziemlichen Auftrieb gegeben haben.«
»Aber du kennst die 37 Namen«, flüsterte Marlen.
»Die ich unter keinen Umständen herausgeben kann«, flüsterte Giorgio zurück. Sein Chef hatte sich persönlich dafür verbürgt, daß sie nicht an die Öffentlichkeit kamen.
Jemand bat um Ruhe. »Ich ruf dich an«, flüsterte Marlen noch, und schon vernahm man Robertos Stimme, die von der vielfältigen Nutzung der unterirdischen Gänge seit der Stadtgründung der mythischen Parthenope sprach und dabei geflissentlich die beiden Weltkriege übersprang – da war wohl nicht genug mit Kunst, dachte Marlen. Dann kam er darauf zu sprechen, wie die Idee entstanden war, eine derartige, bislang beispiellose Kunstausstellung zu organisieren. Zuletzt nannte Roberto namentlich die mitwirkenden Künstler aus ganz Europa, denen er besonderen Dank schulde. »Parthenope, Neapolis, unser Neapel hat es bislang geschafft, alle bewegten Zeiten zu überleben, seine
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