Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Einwohner haben immer wieder bewiesen, daß sie sich nicht unterkriegen lassen, und Sie werden mir recht geben, meine Damen und Herren, wenn ich Neapel mit einem Phoenix vergleiche, der sich immer wieder aus der Asche erhebt, dank seiner Bewohner, dank der Musen, dank der Kunst«, schloß Roberto pathetisch.
Livia verdrehte die Augen.
Es folgte die Begrüßung eines gewissen Dottore Blasio, eines Archäologen und Gründervaters der LAES, der die Versammelten durch das Spektakel führen würde und, wie sich heraus stellte, über eine gute Portion schwarzen Humor verfügte.
»Es ist nicht lange her, daß in diesen Gängen ein toter Mann entdeckt wurde, dessen Mörder noch nicht gefaßt wurden«, begann er. »Wir haben lange mit der Kriminalpolizei verhandelt, um die Freigabe dieser Gänge zu erwirken und somit auch die Premiere unseres Spektakels im Rahmen der Ausstellung nicht verschieben zu müssen. Und dies ist uns gelungen. Ich werde Sie in den folgenden sechzig Minuten so sicher wie das Amen in der Kirche zu allen künstlerischen Objekten – und möglichen Toten – geleiten.« Er räusperte sich. »Wir haben mit dem Mörder ein Abkommen geschlossen: Jeder arbeitet in seinem Revier.« Erste Lacher. »Und damit niemand über eine Leiche stolpert, stellen wir Ihnen Taschenlampen zur Verfügung.« Zustimmendes Geraune. »Bleiben Sie dicht beieinander, verkriechen Sie sich nicht in dunklen Gängen, verlassen Sie nicht unsere Route und lassen Sie sich vor allem von der Licht-und-Ton-Schau nicht ins Bockshorn jagen.«
Die ungefähr fünfzig Teilnehmer begannen daraufhin, sich gesittet durch die ersten unterirdischen Gänge zu schieben. Vereinzelt hörte man Gekicher und Gehuste. In einem ersten Raum lagen, angestrahlt von wattstarken Theaterscheinwerfern, künstliche Leichen, bestehend aus Schaumgummi oder Stoffresten, eingehüllt in helle Leintücher. Man hatte die Objekte auf eine in den Tuff gehauene Stufe gelegt, die den Raum umkränzte. Vom Subjekt zum Objekt hieß das Projekt eines österreichischen Künstlers.
»Die unterirdischen Gefilde sind Quelle, Ursprung und Schutz der Stadt Neapel in jeder ihrer Entwicklungsphasen, seit dem Jahre 474 vor Christi Geburt«, fuhr Dr. Blasio fort. »Die Gänge und Räume dienten, wie Dr. Mazzacane soeben dankenswerterweise ausgeführt hat, Griechen und Römern als Grüften und den Christen als Katakomben. Die außerhalb der ehemaligen Stadtmauern befindlichen Katakomben von San Gennaro und San Gaudioso sind Ihnen natürlich bekannt, und vielleicht sogar die wichtigsten unterirdischen Räume aus der griechischen Epoche der Stadt im Vico Traetta, wo ein tempelähnlich ausgestatteter Raum und drei dahinterliegende Totenkammern entdeckt wurden.«
Es war das erste Mal, daß Marlen nach ihrem unterirdischen Ausflug mit Salvatore hier unten war. Sie hatte Angst gehabt, die grabähnliche Atmosphäre unter der Erde könnte ihr zusetzen. Doch die Anwesenheit so vieler Menschen und die künstlerische Verfremdung verliehen auch dem Ort eine andere Aura und nahmen Marlen die anfängliche Beklemmung. Beinahe fühlte sie sich wohl in dem durchlöcherten Tuffstein und dem leicht modrigen Geruch wie in alten Kirchen.
Weiter ging es durch zwei, drei Gänge, die sich nach hinten verengten. Die nächste Station sollte offensichtlich an die Bedrohung durch den Vesuv und an den Untergang Pompejis gemahnen. Die erste Skulptur, nur spärlich von Punktstrahlern beleuchtet, erinnerte Marlen an Leiber aus Pompeji, die von der glühenden Lava überrollt und durch die luftdichte Schicht Asche konserviert worden waren. Der schwedische Bildhauer hatte zwei hintereinander sitzende nackte Männer aus dem Stein gehauen. Mit der linken Hand hielt der Hintermann dem Vordermann den Mund zu. Mit der rechten umfaßte er dessen Penis. Es war eine Umarmung, die auch Umklammerung sein konnte, der Augenblick des Schwebens zwischen Todesangst und Wonne.
Das zweite Objekt im Raum stammte von Claude, der nun von Dr. Blasio gesondert begrüßt wurde und Applaus erhielt. Zu sehen war ein halbes Pferd. Die Pferdehufe schwebten braun glänzend über dem steinernen Boden. Ein mächtiger Pferdehintern reckte sich den Betrachtern entgegen. Kopf, Ohren, Nüstern, Augen waren unsichtbar. Das hölzerne Pferd war in den Tuff gelaufen, es konnte nicht vor und nicht zurück.
»Steckengeblieben«, kommentierte Jean, der sich zu den beiden Frauen gesellt hatte. »Die Männer verstecken sich, das Pferd läuft in die Wand.
Weitere Kostenlose Bücher