Der Tote unter der Piazza - Ein Neapel-Krimi (German Edition)
Frau. »Die hört nichts. Ist schwerhörig. Außerdem empfängt die sowieso niemanden.«
Marlen und Livia sahen sich ratlos an und traten einen Schritt zurück.
Die Frau holte einen Schlüssel aus der Schürzentasche und machte sich am Schloß der Haustür zu schaffen. Livia hatte jedoch einen Fuß in die zuklappende Tür gestellt, und die beiden Frauen waren bereits auf dem ersten Treppenabsatz angelangt, als man plötzlich aus dem Innern des Treppenhauses ein Scheppern und Getöse vernahm wie von einem blechernen Putzeimer, der irgendwelche Stufen hinunterschepperte.
» Managgia la miseria! « rollte ein misslauniger Fluch hinterher.
Marlen fuhr zusammen und blieb wie erstarrt stehen. Dann packte sie Livia an beiden Armen. »Ich hab’s«, flüsterte sie mit aufgerissenen Augen: »Die Tür. Der Innenhof. Das Geräusch. Der Eimer. Salvatore. Die Gänge. Verstehst du?«
Livia schüttelte den Kopf und befreite sich aus dem Griff der Freundin. »Ich verstehe kein Wort.«
»Warte mal kurz«, sagte Marlen und lief die Treppe hinunter zu der offenen Tür, in der die Frau verschwunden war. Als sie wiederkam, hatte sie vor Aufregung rote Flecken im Gesicht. »Komm. Laß uns hier abhauen«, sagte sie halblaut. »Ich erklär’s dir woanders.«
Es sei das scheppernde Geräusch des Eimers gewesen, das bis dahin lose nebeneinander hängende Fäden miteinander verknüpft hatte, sagte Marlen, als sie in der Villa Comunale auf einer der Steinbänke beim Brunnen mit den auf Wasser wartenden Löwen hockten. Marlen hatte bei dem scheppernden Eimer an die Situation vor zehn Tagen denken müssen, als sie mit Salvatore die Gassen in die Quartieri Spagnoli hochgestiegen war. Heute wie damals der Innenhof, eine unfreundliche Frauenstimme – und ein Blecheimer, der mit Getöse die Treppe hinunterfiel… Und wohin hatte die Treppe vor zehn Tagen geführt? In die unterirdischen Gänge. Wie die Treppe im Innenhof des Palazzo, in dem die Großtante Umbertos wohnte. Mit dem einzigen Unterschied, daß die eine Treppe vom Innenhof aus zugänglich war und die andere vom Treppenhaus.
»Und wie sagt man, wenn Dinge gestohlen werden, nicht mehr da sind, von der Bildfläche verschwinden, sich einfach in Luft auflösen? Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.« Sie wiederholte: »Wie vom Erdboden verschluckt, verstehst du? Und das ›wie‹ kannst du diesmal streichen: vom Erdboden verschluckt .«
Livia stieß einen Pfiff aus. »Nicht zu fassen.«
Jetzt war also klar, wohin Fiorilla und Agnese am Tag zuvor verschwunden waren – ins unterirdische Neapel, und nicht etwa in die Wohnung der schwerhörigen Großtante.
»Die vermutlich nicht einmal mehr die Klingel hört«, sagte Marlen, »weshalb Fiorilla natürlich einen Schlüssel hat, mit dem sich auch die Haustür aufschließen lässt … Und hinterher: ein kurzer Alibibesuch bei der Großtante, die sich freut.«
Livia nickte. »Raffiniert. Und wie bei meiner Großmutter ist Zeit in dem hohen Alter eine andere Größe, die sich relativiert. Wann etwas geschieht, wie lange es dauert, verschwimmt im Verhältnis zu dem langen Leben, das bereits hinter einem liegt und den ungewissen Tagen, die noch auf einen warten. Was sich auf das Alibi Fiorillas aus wirken könnte… Jedenfalls bin ich sicher, daß die Frauen gestern die Bilder aus dem Haus geholt und unter die Erde geschafft haben.«
Marlen zählte mit den Fingern: »Erstens: Agnese di Napoli war bei der LAES und kennt sich in der unterirdischen Stadt aus. Zweitens: Umberto wurde unter der Erde gefunden. Drittens: Agnese und Fiorilla bringen die Sachen unter der Erde in Sicherheit. Viertens: Salvatore, Fachmann für das unterirdische Neapel, war ein Freund von Umberto, außerdem mit Agnese di Napoli liiert und kennt natürlich auch Fiorilla. Was fünftens den Verdacht zuläßt, daß es sich um eine Viererbande handeln könnte, die möglicherweise eine ganze Reihe von Kunstdiebstählen organisiert hat, unter anderem aus Kirchen in und um Neapel, wie die Heilige Patrizia uns heute ganz nebenbei als Information hat zukommen lassen.
44
Als sie zu Hause ankamen, waren die beiden Frauen erschöpft und aufgedreht zugleich. Unter anderen Umständen wäre Marlen auf der Stelle ins Bett gegangen. Jetzt versuchten sie, sich mit einem Glas Weißwein wachzuputschen. In einer Stunde war die Premiere des unterirdischen Kunstspektakels, das sie natürlich nicht versäumen wollten. Der Ausflug unter die Erdoberfläche paßte obendrein bestens in ihre
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